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konzept : künstlerInnen
Rainer Ganahl

Züridüütsch 

Seit Anfang der 1990er Jahre arbeite ich mit Sprache als Teil meiner künstlerischen Praxis. Besonders interessieren mich dabei die Fragen des Spracherwerbs, der Sprachidentität und der Sprachenpolitik. Sprachen definieren unsere Identität und unsere soziale Zugehörigkeit. Sie sind Teil unseres alltäglichen institutionellen Netzwerks, das wir lebendig halten während wir lernen, arbeiten, altern, interagieren und uns kulturell vermischen. Ich brauche nicht darauf hinzuweisen, dass Sprachen an die Menschen und Nationen gebunden sind, die sie sprechen und umgekehrt. Sprachpolitik kann sehr komplex sein und absurde Wendungen nehmen, in denen sich kulturelle, soziale und ökonomische Unterschiede wie auch solche der Rassen und Religionen spiegeln. 

Züridüütsch ist nicht dasselbe wie Schwitzerdütsch und bezieht sich auf die Art und Weise, wie Menschen in Zürich sprechen. Allerdings bezieht sich diese Sicht ausschließlich auf die vorliegende Arbeit, denn viele der Menschen, mit denen ich sprach, versuchten das Sprachverhalten differenziert zu betrachten, indem sie Menschen geografisch statt „klassenspezifisch“ außerhalb der Stadt selbst lokalisierten, auch wenn die betreffende Person ihr ganzes Leben in der größten Stadt der Schweiz verbracht haben könnte. Für diese Reihe wurden alle, die ich interviewte, Teil meines Züridüütsch, unabhängig von ihrem Immigrationsstatus, ihrer Herkunft, ihrer tatsächlichen Beherrschung oder Nicht-Beherrschung des örtlichen Dialekts. Daher habe ich auch Deutsche, Italiener, Kubaner und andere, die „Züridüütsch“ nur gebrochen sprechen, aber Teil der multikulturellen, internationalen Landschaft des heutigen Zürichs sind, befragt. 

Alle Interviewpartner erzählen ihre eigene persönliche Geschichte bezogen auf die örtliche Sprache und ihre Lebensumstände. Züridüütsch ist daher auch ein Verwahrungsort für eine Vielzahl von Geschichten, die individuell sind und gleichzeitig das erzählerische Raster, aus dem der komplexe Stoff von Städten gewebt ist, ausmachen. Trotz unseres Versuchs, Menschen aller Altersstufen und Hintergründe einzubeziehen, können dreißig Menschen in fünfundzwanzig Interviews nicht repräsentativ für eine Stadt von nahezu einer halben Million Einwohnern sein. Trotzdem ergeben die Gespräche einen überraschenden Überblick darüber, wie die Menschen sich fühlen, sehen und ausdrücken. 

Berücksichtigt man die vier offiziellen Sprachen der Schweiz, ergibt sich zusätzlich das Thema des Sprachenwettbewerbs, wobei das in den Interviews niemanden übermäßig beschäftigte. Bilinguale Sprecher ergänzten diesen potentiellen Konflikt durch persönliche Anekdoten und bestätigten mehr oder weniger die Tatsache, dass die Schweiz als positives Beispiel eines vielsprachigen und multireligiösen Landes gelten kann – in starkem Kontrast zu Ländern wie etwa Belgien, das darum kämpft, nicht an seinen Sprachgrenzen zu zerbrechen. In den Interviews trat weniger Polemiken zwischen den Landessprachen zutage als zwischen der „ästhetischen Wahrnehmung“ verschiedener Dialekte. Viele der Interviewten bezeugten ihre Sympathie für das „langsamere, entspannte“ Berndüütsch oder für den „exotischeren“ Appenzeller Talklang, der häufig sogar von den restlichen Sprechern des Schwitzerdütschen nicht verstanden wird. Einige Gesprächspartner hatten Vorbehalte gegen alles „östlich von Zürich“, obwohl ich auch erfuhr, dass Züridüütsch selbst nicht überall geschätzt wird und man es mitunter negativ mit „Stadt“, Stress und sogar Arroganz assoziiert. Ein Befragter fühlte sich als junger Mensch aufgrund dialektaler Unterschiede schikaniert und beschrieb die Belastung, die er dadurch erlebt hatte.

New York, Februar 2009






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