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programmthematische reihekonzept

konzept : künstlerInnen
KONZEPT

Übersetzungsparadoxien und Missverständnisse
[Teil 1] [Teil 2] [Teil 3]
Konzept und Text: Sønke Gau und Katharina Schlieben
Kuratorische Assistenz: Iris Ströbel und Siri Peyer

Übersetzungsparadoxien und Missverständnisse
, Teil 1
Gedankenskizze zur Projektreihe
4. Oktober – 21. Dezember 2008

Sønke Gau und Katharina Schlieben Katharina Schlieben

 Sønke Gau und Katharina Schlieben Sønke Gau und Katharina Schlieben

Sønke Gau Katharina Schlieben

Weltweit gibt es ca. 6000 Sprachen, es wird davon ausgegangen, dass in diesem Jahrhundert etwa 90 % der noch existierenden Sprachen verschwinden werden. Es sind damit aber nicht nur die Sprachen die verschwinden, sondern auch Kulturen und ihr Wissen. In einer neoliberalen Gesellschaft, die von einer derzeitigen und zukünftigen Wissensgesellschaft spricht, verschwindet durch die Geschwindigkeit globaler marktökonomischer Reglementierungen und Zielsetzungen heterogenes und vielfältiges Wissen und eine Bildung, die in erster Linie in einer kommunikationsorientierten Welt auch durch das Medium der Sprache vermittelt wird.

2008 ist von den Vereinten Nationen zum Internationalen Jahr der Sprache erklärt worden. Das erklärte Ziel der Sprachenpolitik der Europäischen Union ist die Mehrsprachigkeit der europäischen Bürger zu stärken: Mehrsprachigkeit fördere die persönliche Entwicklung des Einzelnen, sie verbessere die berufliche Mobilität und die Wettbewerbsfähigkeit (Lissabon-Strategie), fördere das Verständnis anderer Kulturen (interkultureller Dialog) und ermögliche ein «wirkliches Gefühl der Unionsbürgerschaft». Die neu eingerichtete Kommission für Mehrsprachigkeit unter Leonard Orban erklärt auf der Website der Europäischen Union folgendes: «Sprachen sind für Europäer, die zusammen arbeiten wollen, von entscheidender Bedeutung. Sie sind das Herzstück dessen, was die Europäische Union mit ‹Einheit in Vielfalt› meint. Wir müssen unser sprachliches Erbe in den Mitgliedstaaten erhalten und pflegen, wir müssen uns jedoch auch untereinander, mit unseren Nachbarn und mit unseren Partnern in der EU verständigen können. Mehrsprachige Unternehmen und mehrsprachige Bürgerinnen und Bürger sind wettbewerbsfähiger und mobiler.»(1) Die Wettbewerbsfähigkeit scheint aus wirtschaftlicher Logik ein zentrales Argument zu sein, das stärker wiegt als ein Interesse an heterogenen polyphonen Sprachgemeinschaften. Eine Wissensgesellschaft wird in diesem Sinn zu grossen Teilen durch ökonomische Vorteile definiert.

Die Sprachpolitik der EU ist bestimmt durch eine Vielsprachigkeit: derzeit sind es 23 Amtsprachen, die im Zuge von Übersetzungen allein auf legislativer Ebene über eine Milliarde Euro kosten. Sprachpolitik ist immer auch an ökonomische Bedingungen und damit an hegemoniale Entscheidungsstrukturen gebunden. Welche Sprachen bekommen einen Übersetzungsvorteil? Die koloniale Praxis hat gezeigt und zeigt, dass mehrheitlich eine Amtssprache eine Vielzahl von Sprachen und Sprachgemeinschaften dominiert. Entscheidungen wie etwa jüngst zum Beispiel in Venezuela oder schon länger in Peru, neben dem Spanischen, indigene Sprachen ebenfalls zu Verfassungs- und Amtssprachen zu deklarieren sind selten. Die Frage nach sprachpolitischen Entscheidungen ist nicht von einer Auseinandersetzung mit post/kolonialen Erfahrungen als auch migrantischen Bewegungen in Bezug auf Konzepte der Nationenbildung und Landessprachregelungen zu trennen. Dies hat das transnationale Forschungsprojekt „translate“(2) der eipcp.net Plattform deutlich hervorgehoben. Boris Buden, der ebenfalls an diesem Projekt aktiv beteiligt ist, zeigt in seiner Publikation „Der Schacht von Babel. Ist Kultur übersetzbar?“(3) auf, wie der Begriff der Übersetzung aus seinem ursprünglichen Kontext der Linguistik auf andere gesellschaftliche Bereiche übertragen wurde und somit einem ausgeprägten Wandel unterlag.

Der Vorgang der Übersetzung im engeren Sinne bezeichnet die Übertragung eines Textes von einer Ausgangssprache in eine Zielsprache – jedoch ist es unmöglich, dass eine Übersetzung dem Sinn des ‹Originals› je völlig entspricht. Umberto Eco zeigt in seinem gleichnamigem Buch auf, dass eine Übersetzung nur eine Annäherung sein kann und keine exakte Übertragung – es ist somit ein Versuch «quasi dasselbe mit anderen Worten»(4) zu sagen. Dieser Umstand wirft die Frage auf nach der Differenz, die bei dem Übersetzungsvorgang von einer Sprache in die andere entsteht. Grundsätzlich impliziert der Vorgang des Übersetzens eine Erfahrung von Distanz, bzw. die Anerkennung von Alterität und die Notwendigkeit sich in ein Verhältnis zu dem ‹Anderen› zu setzen. Das ins-Verhältnis-setzen geschieht dabei meist vor dem Hintergrund der eigenen Sprache. Dieses ‹klassische› Übersetzungsmodell geht dabei von einer binären Gegenüberstellung zweier Bezugssysteme aus, die sich bestenfalls annähren können. Diese Annäherung bezeichnet Eco in seinem Buch mit dem zentralen Begriff des ‹Verhandelns›. Er befürwortet eine Position des Übersetzers/der Übersetzerin als autonomes Subjekt, das sich zwischen den Sprachen bewegen und im Vorgang der Übersetzung auch Freiheiten in Anspruch nehmen kann. Die Frage nach dem Umgang mit dieser notwendigen Differenz im Prozess der Verhandlung ermöglicht, wie Buden hervorhebt, verschiedene Zugangsweisen und auch Vereinnahmungen.

In der romantischen Übersetzungstheorie, vor allem vertreten durch Wilhelm Humboldt, sah man den Zweck der Übersetzung nicht darin, die Kommunikation zwischen zwei verschiedenen Sprachen und Kulturen zu erleichtern, sondern die eigene Sprache zu verfeinern und zu bilden, etwa indem man die Fremdheit der Originalsprache in der Übersetzung noch deutlich spüren konnte und dadurch die eigene Sprache erweiterte.

Doch das Konzept der kulturellen Übersetzung geht nicht aus dieser traditionellen Theorie hervor, sondern aus deren radikalen Kritik; erstmals formuliert in Walter Benjamins Essay „Die Aufgabe des Übersetzers“ 1921. Er entledigt sich der Idee des Originals und damit auch des gesamten Binarismus der traditionellen Übersetzungstheorie. Ziel der Übersetzung ist nach Benjamin nicht die Kommunikation oder die Übermittlung und sie bezieht sich nicht auf den originalen Text, sie berührt ihn nur in einem einzigen Punkt, wie eine Tangente einen Kreis berührt und danach ihren eigenen Weg fortsetzt.(5) Weder das Original noch die Übersetzung, weder die Sprache des Originals noch die Sprache der Übersetzung hat eine essenzielle Qualität. Sie verwandeln und verändern sich ständig und somit stellt das Original keinen essentialistischen Ursprung dar. Benjamins dekonstruktivistische Herangehensweise öffnet den Weg für das Konzept der ‹kulturellen Übersetzung›, das wiederum von einem prominenten postkolonialen Theoretiker geprägt wurde: Homi Bhabha. Seine Motivation war ursprünglich die Kritik der multikulturellen Ideologie, das Bedürfnis, über Kultur nachzudenken und über Beziehungen zwischen verschiedenen Kulturen jenseits der Idee einheitlicher essenzieller kultureller Identitäten und Gemeinschaften, die aus diesen Identitäten entspringen. Nach seiner Theorie liesse sich der Raum ZWISCHEN den beiden als ‹dritter Ort› bezeichnen. Die inflationäre Verwendung, Ausweitung und Übertragung des Konzeptes von ‹Hybridität›, das sich primär auf den Bereich der Kultur bezieht, läuft Gefahr wie zum Beispiel Kien Nghi Ha in seiner Publikation „Hype um Hybridität“(6) aufzeigt, durch ‹Kulturalisierung› den Bereich des ‹Politischen› zu verdrängen.

Zwei Anliegen treffen bei der Frage um Vielstimmig/sprachigkeit aufeinander: Einerseits der Wunsch, möglichst mit vielen best möglichst kommunizieren zu können, was sich etwa in Versuchen von Spracherfindungen und Plansprachen wie zum Beispiel des Esperantos(7) zeigt; andererseits verlangt ein komplexes vielschichtiges Verständnis dezidiert Sprachkenntnisse und -kompetenzen der jeweils anderen Sprache, um kontext- und geschichtsspezifisch ein Wissen und Verständnis entwickeln zu können und kulturelle vielfältige Stimmen zu generieren. Verhandlungs- und Abkommensgespräche produzieren häufig (auch gewollte) Missverständnisse und Übersetzungsproblematiken, diese sind wiederum nicht allein von einem ‹Sprachverstehen› abhängig, vielmehr benötigt Kommunikation Interessenssolidaritäten und einen gegenseitig langfristigen Erfahrungsaustausch.

So betont Étienne Balibar in Hinblick auf die ‹notwendige Unmöglichkeit› eine ‹Bürgerschaft in Europa› zu konstituieren um eine gemeinsame demokratische europäische Öffentlichkeit zu erreichen, die Wichtigkeit von Sprache als Medium der Verständigung: «Die ‹Sprache Europas› ist kein Code, sie ist ein in ständiger Veränderung begriffenes System einander begegnender Sprachgebräuche, anders gesagt: Sie ist eine Übersetzung»(8). Balibar führt diesbezüglich aus, «dass auch die ‹Übersetzungsgemeinschaft› keine ist, in der alle die Sprachen aller sprechen oder verstehen, sondern im Gegenteil eine, in der die ‹Mittler›-Funktion je nach der Situation oder Konfiguration des Austauschs der Reihe nach jedem zufällt und von der ‹Mehrheits›- zur ‹Minderheits›-Position übergeht(9)».

Diese für einen europäischen Einigungsprozess (der nicht auf wirtschaftliche und sicherheitspolitische Bereiche beschränkt verstanden wird) so entscheidende Frage nach Viel-/Mehrsprachigkeit zeigt sich in kleinerem Massstab auch innerhalb der Schweiz, zum Beispiel durch die Diskussion um das Rätoromanische: In der Schweiz gibt es vier Landesprachen, nach swissworld.org wird Deutsch von 63,7 % gesprochen, Französisch von 20,4%, Italienisch von 6,5%, Rätoromanisch von 0,5%, weitere 9% sprechen andere Sprachen. Rätoromanisch ist keine Sprache, sondern eine Familie mehrerer Dialekte, die von Tal zu Tal variieren. Es existieren fünf Schriftsprachen: Sursilvan, Sutsilvan, Surmiran, Vallader und Puter. Romantsch Grischun und wurde vom Zürcher Romanisten Heinrich Schmid entwickelt und 1983 vorgestellt und stellt einen sprachlichen konstruierten Kompromiss zwischen den verschiedenen Idiomen dar, der als Einheits(schrift)sprache fungieren soll. Seit 1993 ist Romantsch Grischun offizielle Landesprache(10) und seit 2001 im Kanton Graubünden Amtsprache, die seit 2007/2008 in 23 Gemeinden als Lehrsprache an den Schulen fungiert.

Die Projektreihe „Übersetzungsparadoxien und Missverständnisse“ unterteilt sich in drei Kapitel. Sie nimmt im ersten Teil (Oktober - Dezember 2008) sprachpolitische Überlegungen zur ‹Vielsprachigkeit› einerseits zum Ausgangspunkt und überlegt andererseits, inwiefern diese ebenfalls die ‹Vielstimmigkeit› ähnlich aber anders betreffen. Denn Übersetzungsproblematiken, -paradoxien und Spracherfindungen tauchen nicht nur bei der Überbrückung von Sprachgrenzen auf, sondern befinden sich auch innerhalb dieser. Darüber hinausgehen wir bei der Frage nach Übersetzung nicht nur von der gesprochenen Sprache aus, sondern von dem Modus der Übersetzung an sich, der im intersubjektiven Verständnis/Konflikt genauso vorhanden ist wie im Transkontextuellen oder Intermedialen. Künstlerische Arbeiten und Filme werden gezeigt, die sich der Frage nach den (Un-) Möglichkeiten von Übersetzung sowie (un)produktiven Missverständnissen auseinandersetzten. Im Rahmen einer Kommentarebene wurden von den teilnehmenden KünstlerInnen vorgeschlagene AutorInnen oder WissenschaftlerInnen gebeten einen kurzen Text über Inhalte und Fragen der jeweiligen Arbeit in ihrer Sprache zu verfassen. Neben den Vermittlungsaspekten findet auf dieser Ebene bereits eine doppelte Übersetzungsbewegung statt. Einerseits findet eine Übersetzung der künstlerischen Arbeit in das Medium Schrift statt und andererseits werden die Texte aus der Sprache, in der sie verfasst wurden, ins Deutsche übersetzt.

Eine nachfolgende Ausstellung möchte Fragen spezifizieren, die in der ersten Ausstellung vorskizziert sind. Eine genauere Betrachtung der vielsprachigen Schweizer Situation und Mikrorecherchen zu Minderheitssprachen und -regionen in Europa ist in Diskussion (Februar - April 2009). In einem weiteren Schritt möchten wir die Krux und die Frage nach der kuratorischen Übersetzung ins Spielfeld bringen. Mit einer internationalen Konferenz und einer Ausstellung zu diesem Praxis- und Diskursfeld möchten wir die Reihe abschliessen (Juni - Juli 2009).

KünstlerInnen und Kommentare von AutorInnen
Wir haben die beteiligten KünstlerInnen gebeten, ihrerseits eine/n SchriftstellerIn, WissenschaftlerIn oder Kontext bezogene Person einzuladen, einen kurzen Text aus ihrer Perspektive und in ihrer Muttersprache über die jeweilige Arbeit oder die inhaltlichen Fragen der Arbeit zu verfassen. Diese Texte sind als Kommentarebene in die Ausstellung integriert und hier mit einer Übersetzung ins Deutsche abgedruckt. So kann man bereits von einer doppelten Übersetzungsbewegung sprechen: Es findet eine Übersetzung der künstlerischen Arbeit in das Medium Text statt und gleichzeitig wurden die Texte ins Deutsche übersetzt.

Pierre Bismuth, Chiapas Media Project, Beth Derbyshire / Ilari Valbonesi, Esra Ersen / Miya Yoshida, Patricia Esquivias / Cristián Silva, Lise Harlev / Boris Boll-Johansen / Leila El-Kayem 1 / 2, Farida Heuck / Kien Nghi Ha, Susan Hiller / Sonja Lau / André Siegers, Andreas Künzli, Wolf Schmelter, Pavel Medvedev / Alexander Komin, Praga Manifesto / Dietrich M. Weidmann, Khanh Minh Nguyen / Andrea L. Rassel, Raqs Media Collective / Ravi Sundaram, Volker Schreiner / Kristina Tieke.

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1 http://ec.europa.eu/commission_barroso/orban/index_de.htm
2 http://translate.eipcp.net/
3 Vgl. Boris Buden: „Der Schacht von Babel. Ist Kultur übersetzbar?“ Berlin 2005.
4 Umberto Eco: „Quasi dasselbe mit anderen Worten. Über das Übersetzen“. München 2006.
5 Vgl. Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers. In: ders.: „Gesammelt Schriften Bd. IV/1“. Frankfurt am Main 1972, S. 19f.
6 Kien Nghi Ha: „Hype um Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus“. 2005
7 Die Ständerätin Gisèle Ory und die Nationalrätin Francine John-Calame haben den Esperanto-Weltbund (Universala Esperanto-Asocio, UEA) als Kandidation für den Friedensnobelpreis 2008 vorgeschlagen
8 Étienne Balibar: Schwieriges Europa: Die Baustellen der Demokratie, in ders.: „Sind wir Bürger Europas? Politische Integration, soziale Ausgrenzung und die Zukunft des Nationalen“, 2003, S. 289.
9 Ebd. S. 287.
10 Artikel 70 Abs. 1 der Bundesverfassung der Schweiz: «Die Amtssprachen des Bundes sind Deutsch, Französisch und Italienisch. Im Verkehr mit Personen rätoromanischer Sprache ist auch das Rätoromanische Amtssprache des Bundes.



Kurzer Film zum Aufbau
A short movie about the installation



ÜBERSETZUNGSPARADOXIEN UND MISSVERSTÄNDNISSE, Teil 2

Eröffnung:
27. Februar, Projektpräsentationen 19.00 Uhr
Ausstellung:  28. Februar – 26. April 2009


KünstlerInnen:
Kristina Ask / Christian Hillesø / Mads Rasmussen / Mia Rosasco,
Alexandra Croitoru, Rainer Ganahl, Lise Harlev, Christoph Keller,
Thomas Korschil / Eva Simmler, Uriel Orlov, Ingrid Wildi Merino

Konzept und Text: Sønke Gau und Katharina Schlieben

Die „Vielfalt in der Einheit zu leben“ heisst es in der Präambel der Schweizer Verfassung in Anspielung auf ein Zitat von Gottfried Keller. Ein wesentliches Element dieser Vielfalt ist die offizielle Viersprachigkeit des Landes. Anders als die meisten anderen Länder definiert sich die Schweiz nicht über eine Sprache und Kultur, sondern deren vier: „Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch“ lautet der vierte Artikel der Bundesverfassung. Die offizielle Viersprachigkeit ist aber in den wenigsten Fällen eine individuelle als vielmehr eine territoriale. Die jeweiligen „Sprachterritorien“ sind abgesehen von wenigen Städten und Gemeinden weitgehend „einsprachig“ und weisen auch unterschiedliche „kulturelle“ Prägungen auf, die sich zum Beispiel auch am Abstimmungsverhalten beobachten lassen. Ausdruck dieser territorialen Mehrsprachigkeit ist unter anderem die Rede vom so genannten „Röstigraben“.

In diesem Bild von der mehrsprachigen Schweiz kommt nur die offizielle Viersprachigkeit zum Ausdruck; darüber hinaus werden aber bis zu 50 weitere Sprachen gesprochen. Rund 20 Prozent macht der Anteil der Menschen ohne Schweizer Pass an der Bevölkerung aus, zuzüglich der Personen, die sich mittlerweile haben einbürgern lassen. Mit den Eingewanderten sind auch weitere Sprachen in das Land gekommen – mittlerweile können mehr Personen Albanisch, Portugiesisch oder eine slawische Sprache sprechen, als Rätoromanisch. So vermerkt das Bundesamt für Statistik an vierter Stelle der meistgesprochenen Hauptsprachen der Wohnbevölkerung in der Schweiz die vage Kategorie „übrige Sprachen“ mit 9%.  Diese Gruppierung stellt nach der deutschen, französischen und italienischen und vor der spanischen, kroatischen und serbischen die grösste Gruppierung dar. Zu den meistgesprochenen „übrigen Sprachen“ gehören Tamil, Arabisch, Niederländisch, Russisch, Chinesisch, Thai sowie viele (west)afrikanische Sprachen. Jede dieser Sprachen hat in ihrer Vertretung in der Schweiz eigene spezifische Gründe und eine eigene Geschichte, welche sich durch die pauschale Kategorisierung „übrige Sprachen“ nicht annähernd wiedergeben lässt. Die offizielle Viersprachigkeit, ist also schon lange einer Sprachvielfalt gewichen.

Die Vielsprachigkeit in der Schweiz fächert sich aber auch weiter auf, wenn man sich die einzelnen Kategorien der offiziellen Viersprachigkeit genauer ansieht. So gibt zwar zum Beispiel die Mehrheit der Befragten Deutsch als Hauptsprache an, aber innerhalb dieser Gruppierung bestehen weitere Differenzierungen. Zum einen zwischen dem so genannten „Schriftdeutsch“ und dem Schweizerdeutschen und zum anderen innerhalb dieser Kategorie zwischen den vielen regionalen Dialekten. Nach einem statistischen Bericht des Kantons Zürich über die Sprachlandschaften im Kanton geben über zwei Drittel der Befragten an, im privaten Bereich ausschliesslich Mundart zu sprechen und auch im Erwerbsleben und in der Schule liegt dieser Anteil noch bei knapp 70%. Zur so genannten Diglossie, welche eine Form der Zweisprachigkeit ist, bei der die eine Sprachform die Standard- oder Hochsprache darstellt, während die andere im täglichen Gebrauch, in informellen Texten auftritt und im konkreten Fall den notwendigen Erwerb von Schriftdeutsch und Schweizerdeutsch beschreibt, kommen zusätzlich noch die teilweise ausgeprägten Unterschiede zwischen den jeweiligen Dialekten. Auf Grund der Sprachvielfalt ist der Alltag vieler Menschen in der Schweiz von permanenten Übersetzungsprozessen geprägt.

Der zweite Teil der Projektlinie Übersetzungsparadoxien und Missverständnisse möchte hier ansetzen und Fragen im Hinblick auf die Schweizer Situation spezifizieren, die im ersten Ausstellungsteil bereits vorskizziert waren. Eine Reihe von „Mikro-Recherchen“, Videoarbeiten und eine raumgreifende Audioinstallation setzen sich mit der Vielsprachigkeit, sprachregionalen Schweizerischen Phänomenen, Problemen, Widerständen im Alltag und in sprachpolitischen Strukturen auseinander. Mit „Mikrorecherchen“ bezeichnen wir diese künstlerischen Arbeiten, da sie einen Recherchezwischenstand skizzieren, eine visuelle Form zur Disposition stellen aber gleichzeitig zu weiteren Fragen und möglichen Weiterforschungen einladen.

Rainer Ganahl beschäftigt sich in seiner künstlerischen Praxis seit langem mit Sprache und ihrem Einfluss auf Identität sowie soziale und politische Zusammenhänge. Für seine neue Arbeit Züridüütsch hat er mehr als 25 Interviews mit Personen über ihren Zugang und ihre Prägung durch den lokalen Dialekt geführt. Auch Ingrid Wildi untersucht Sprache, kulturelle Identität und soziale Zugehörigkeit. Das Projekt Muertos Civiles ist die Fortsetzung ihrer vorherigen Forschungen über die so genannte illegale Einwanderung. In einem Workshop mit San Papiers analysierten sie gemeinsam den Film Welcome Europa von Bruno Ulmer. Dabei standen Fragen nach filmischer Repräsentation und der eigenen Situation im Alltag in Zürich im Vordergrund. Uriel Orlow hat das kommunikative Ensemble des legendären Kaffeehauses Odeon genauer angeschaut und im Rahmen eines Gespräches Gäste und Akteure verschiedener Generationen des Odeons zusammen an einen Tisch gebracht, um über den Ort und die in und über ihn stattgefundenen Gespräche gemeinsam nachzudenken. Gleichzeitig kam es zu so etwas wie einer Art „Gegenwartsübersetzung“ des Ortes Odeons, wobei Erinnerungen in der gesprochen Sprache / Mundart Ausdruck finden. Lise Harlev hat in Zürich Spuren der Typografie Helvetica verfolgt, und ist Orten und Funktionszusammenhängen dieser Schrift nachgegangen. Helvetica lässt sich als eine Schrift verstehen, die sich im weitesten Sinn als „demokratisch“ bezeichnen liesse, da sie universell und multifunktional einsetzbar ist und aus diesem Grund weltweit äusserst vielseitig verwendet wurde. Die Schrift ist damit auch ein Medium der Kommunikation, die für und in Kontexte übersetzt. Alexandra Coituro hat sich mit der Frage von Übersetzungsmotivationen aus dem Rätoromanischen ins Rumänische sowie dem Rumänischen ins Rätoromanische beschäftigt. Im Sinne einer fiktionalisierenden und konstruierenden Geschichtsschreibung fragt sie nach Verbindungen, die über die linguistische Ebene hinausgehen und assoziativ zu weiteren Geschichtarchäologien auffordern.  

Ergänzt werden die „Mikro-Recherchen“ durch eine Auswahl bereits bestehender künstlerischer Arbeiten: Der Film Artikel 7. Unser Recht! von Thomas Korschil und Eva Simmler ist eine Dokumentation über die wechselhafte Geschichte des Kärntner Minderheitenkonflikts, der sich unter anderem an der Aufstellung von zweisprachigen (Deutsch/Slowenisch) Ortsschildern in der Region entzündete. DICTIONARY ist ein kollektiver Versuch, Wörter, Sprachen, Ausdrücke, Bedeutungen, Ansichten und Redewendungen zu definieren und hat das Format eines quasi anarchistischen Taschenwörterbuchs. Christoph Keller beschäftigte sich mit dem Bereich des Simultan-Übersetzens. Seine Videoinstallation Interpreters verdeutlicht, dass es sich bei diesem Vorgang eher um eine Interpretation als um eine Übersetzung handelt, bei dem sich die dolmetschende Person quasi in die andere Person hereinversetzen muss. Der sprachliche Ausdruck von Gedanken changiert zwischen den Polen „Ich“ und der/die „Andere“.

Darüber hinaus bieten Audiokommentare der teilnehmenden KünstlerInnen, die in verschiedenen Deutschschweizer Dialekte übersetzt und eingesprochen wurden, an einem runden Konferenztisch vermittelnde Informationen zu ihren Recherchen. Quasi gerahmt oder besser unterlegt ist die gesamte Ausstellung von einer Audioinstallation welche auf die Situation der Vielsprachigkeit in der Schweiz verweist.

Katharina Schlieben Katharina Schlieben

Katharina Schlieben Katharina Schlieben

Katharina Schlieben Katharina Schlieben





ÜBERSETZUNGSPARADOXIEN UND MISSVERSTÄNDNISSE, Teil 3

Eröffnung: 22. Mai, Projektpräsentationen 19.00 Uhr
Ausstellung: 23. Mai – 19. Juli 2009

KünstlerInnen
Lieven de Boeck, Katharina Cibulka / Eva Jiřička, Josef Dabernig, Saskia Holmkvist, Nina Katchadourian, M.A.Numminen, Stefan Römer, Sean Snyder, Szuper Gallery, Gitte Villesen, Barbara Visser
Text und Konzept: Sønke Gau / Katharina Schlieben

Filmvorschläge und Kommentare / „Personal Translation“ von
Rael Artel, Brent Klinkum, a. titolo, Olivia Plender, Stefanie Schulte Strathaus

Der dritte und letzte Teil der Projektreihe Übersetzungsparadoxien und Missverständnisse bildet den Abschluss dieser vierten Projektreihe und bietet gleichzeitig die Gelegenheit zum Ende unseres fünfjährigen Kuratoriums an der Shedhalle über die Frage nach Übersetzungsparadoxien nachzudenken, die immer auch die intersubjektive Ebene betreffen.

Übersetzungsprobleme können linguistisch und kulturell untersucht werden. Oft beginnen die Übersetzungsparadoxien bei uns aber im persönlichen Alltag oder in der intersubjektiven Kommunikation. Wieso habe ich etwas so oder so verstanden? Warum fühle ich mich missverstanden? Wer hat wie übersetzt? Wie sehen die intersubjektiven Übersetzungsprozesse aus? Nicht zuletzt ist es auch die künstlerische und kuratorische Praxis, die auch von subjektiven und persönlichen Übersetzungen geprägt ist oder zumindest dort oft ihren Ausgangspunkt nehmen. In diesem dritten Teil möchten wir daher die Krux der Übersetzung ins Spiel bringen: Sowohl die persönliche als auch intersubjektiven Übersetzungsparadoxien des Alltags als auch, die betreffend der künstlerischen und kuratorischen Übersetzungsmodi. Die gezeigten künstlerischen Arbeiten kreisen um Fragen, wie Inhalte vermittelt und wie über sie gesprochen werden kann, wie Kommunikation oder auch Nicht-Kommunikation selbst immer schon einen Übersetzungsakt darstellt, welche Medien dabei eine Rolle spielen können, oder in wiefern Missverständnisse Kommunikationen beeinflussen oder generieren.

Die Zeichnungen und Gebäudepläne von Lieven de Boeck gehen der architektonischen „Idee“, wie  ein Museum für Gegenwartskunst aussehen könnte oder idealerweise sollte, nach. Künstlerische und kuratorische Fragestellungen werden so auf ihre räumlichen Bedingungen befragt, reduziert und von einem anderen Blickwinkel ausgehend betrachtet. Katharina Cibulka und Eva Jiřička verschenken in ihrem Video „Gratis Punsch“ auf Weihnachtsmärkten in Wien Punsch. Diese vermeintlich grosszügige Geste stösst auf heftige Reaktionen und Missverständnisse seitens der StandbetreiberInnen. Im Film „Hotel Roccalba“ von Josef Dabernig verbringen zwölf Personen schweigend nebeneinander einen Sonntagnachmittag, jeder geht für sich seiner Tätigkeit nach und es scheint unklar, was die Personen miteinander verbindet und trotz der vertrauten Stimmung bleibt viel Spielraum für Interpretationen offen. Uns scheinbar bekannte professionell geführte Konflikt- und Verhandlungsgespräche nehmen in den beiden Filmen „Role Control“ und „In Character“ von Saskia Holmkvist plötzlich unerwartete Wendungen an. Uns wird bewusst, wie sehr wir versuchen Gesehenes und Erfahrenes einzuordnen und zu interpretieren und mit bereits Bekanntem verknüpfen. Die Eltern der Künstlerin Nina Katchadourian, die beide einen Migrationshintergrund haben, und deren Akzente deutlich hörbar, aber trotzdem schwer zuortbar sind, versuchen mit Hilfe von einem Sprachtrainer diesen wegzutrainieren, im Gegenzug dazu übt die Künstlerin, genau so wie ihre Eltern zu sprechen, und so auch ein Stück ihrer eigenen Herkunft und Identität zu erforschen. Der Sänger, Komponist, Entertainer, Schriftsteller und Filmemacher M.A. Numminen singt den berühmten und viel zitierten Satz aus Ludwig Wittgensteins Werk „Tractatus logico-philosophicus“ aus dem Jahr 1918 „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Womit nicht gemeint sein soll, dass bestimmte Wahrheiten, Begebenheiten nicht ausgesprochen werden sollen, sondern dass dem Sprechen oder Denken per se Grenzen gesetzt sind, die wiederum dem eigentlichen Akt des Sprechens eine Begrenzung auferlegen. In „Tomorrow is an other day (Die gespielte Kunstkritik)“ von Stefan Römer, wird die heute bereits in die Kunstgeschichtsschreibung aufgenommene Ausstellung von Rirkrit Tiravanija, die 1996 im Kölnischen Kunstverein stattfand auf polemische Art und Weise „auseinander genommen“ und kritisiert. „Exhibition“ von Sean Snyder ist ein Film über Kunstrezeption und den daraus entstehenden Diskurs. Ausschnitte des sowjetischen Dokumentarfilms „Noble Impulses“ von Israel Goldstein aus dem Jahr 1965 werden neu zusammengesetzt und es entsteht eine Reflektion über Rezeptionskonventionen und -rituale innerhalb der Kunst. Szuper Gallery (Susanne Clausen und Pavel Kerestey) sind in einem Workshop zusammen mit den StudentInnen vom Postgraduate Program in Curating der Zürcher Hochschule der Künste der Frage nachgegangen, wie sich das Bild des Kurators/der Kuratorin im Vergleich mit der alltäglichen Realität verhält. Entstanden sind einzelne performative Sequenzen, die versuchen den kuratorischen Prozess zu inszenieren. Gitte Villesen gibt „DJ Willy“ eine Stunde Zeit, um ihr seine Lieblingsmusik vorzuspielen, das daraus entstandene Video zeigt die Highlights dieser Präsentation. Die gespielte Musik weckt Erinnerungen an Erlebtes und an vergangene Sehnsüchte und wird zum Kommunikationsmedium. In ihrem Video „Last Lecture“ vermischt Barbara Visser mehrere zeitliche Ebenen einer Vortragspräsentation, den sie sowohl selbst spricht als auch von einer anderen Person sprechen lässt. So wird immer unklarer, wer wann die Autorschaft über die gesprochenen Worte innehat.

Die künstlerischen Arbeiten stehen räumlich und Blickperspektivisch in Dialog zueinander. Wir laden Sie herzlich ein, SprecherInnenperspektiven zu folgen und gleichzeitig ihren eigenen persönlichen Übersetzungen nachzugehen.

In der Videolounge „Personal Translation“ möchten wir verschiedene Perspektiven zu Wort kommen zu lassen und so das Diskussionsfeld öffnen und erweitern. Wir haben Rael Artel, Brent Klinkum, a. titolo, Olivia Plender und Stefanie Schulte Strathaus eingeladen, jeweils einen Film vorzustellen. Dazu haben die Eingeladenen persönliche Kommentare verfasst, die aus ihrer Sichtweise erklären, warum sie diesen Film gewählt haben, und inwiefern sie Übersetzungsmissverständnisse auslegen.

Sämtliche Beteiligte, mit denen wir in der Shedhalle zusammengearbeitet haben, wurden darüber hinaus von uns eingeladen, ihre Gedanken und Erfahrungen bezüglich Übersetzungsmissverständnisse via einer von ihnen gestalteten Postkarte in die Shedhalle zu senden. Diese Rückmeldungen, die gleichzeitig auch eine Rückschau auf unsere diversen Zusammenarbeiten zeigen, kommentieren die Ausstellung.

In der dreiteiligen Veranstaltungsreihe „Some more misunderstandings to discuss!“ am See möchten wir mit Vorträgen, Diskussionen und Filmvorführungen mit Ihnen das Gespräch am 18. Juni, 9. Juli und 16. Juli fortsetzen. 

... Und wir möchten Sie jetzt schon ganz herzlich zu unserem Sommerfest, am 26. Juni einladen!


Some misunderstandings to discuss
Text und Konzept: Sønke Gau / Katharina Schlieben





Weitere Informationen finden Sie unter:
www.shedhalle.ch