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Pavel Medvedev: The Unseen, Video, 30 min, 2007
Ein Kommentar von / a commentary by Alexander Komin







G8, oder Fest der Könige

Im Juli 2006 fand in St. Petersburg das Gipfeltreffen von den Staatsoberhäuptern der ‹Grossen Acht›, kurz ‹G8›, statt.

Die Massenmedien berichteten über die Ankunft der hohen Gäste in St. Petersburg und deren Empfang im Flughafen, über ihre Gespräche in den Luxus-Interieuren des Konstantin-Palastes und des Grossen Palastes von Peterhof… Man konnte den Eindruck eines grossen Events, ja sogar eines Festes, auf dem wir alle präsent sind, gewinnen. 

Aber nicht alle BewohnerInnen und Gäste Petersburgs waren bereit, dieses festliche Gefühl zu teilen. Einer hatte zum Beispiel vor, ins Museum zu gehen, aber das Museum war geschlossen und alle Zufahrten und Zugänge dazu gesperrt – G8! Keine Katastrophe? Vielleicht, besonders wenn dieser Pechvogel ein Bewohner Petersburgs ist. Und wie ist es, wenn er ein Gast der Stadt ist, der von einem anderen Ende unseres riesigen Landes für nur ein paar Tage hierher gekommen ist? Aha, man hätte vorher denken sollen, WANN man nach Petersburg kommt, denn hier ist zurzeit G8! 

Na gut, aber während man eine Reise wirklich vorher planen kann, kann man den Tod nicht voraussagen. In den Tagen, wo sich in Petersburg das Gipfeltreffen abspielte, starben Hunderte von Menschen, aber der Südfriedhof, der grösste in der Stadt und einer der wenigen, wo es noch genehmigt ist, zu beerdigen, war für drei Tage geschlossen… Der Grund dafür war, dass die Strasse, die von den Gipfeltreffen-TeilnehmerInnen immer wieder benutzt wurde, teilweise genau an diesem Friedhof vorbeiläuft. Wozu die festliche Stimmung durch den Anblick von Trauerzügen herabsetzen? Und warum sollen überhaupt irgendwelche unbedeutende Menschen und Autos immer im Wege sein… Enorme Polizeikräften wurden für die Einrichtung aller möglichen Absperrungen und Kordone eingesetzt. Hunderte Polizeiwagen mit erschreckenden Sondersignalen huschten hin und her durch die Gegend, entgegenkommende Autos wegjagend. Alle müssen doch verstehen, was G8 ist!

…Erstaunlich schöne Gesichter schauen auf uns von den Grabsteinen des Südfriedhofs. Immer wieder brausen Hubschrauber darüber, Luftsperren abfliegend – G8! Diejenigen, die darunter sind, existieren für sie nicht. Sie sind schon tot. Und diejenigen, die noch leben – ob sie existieren? Oder sie gibt es auch nicht mehr?

«Das Gipfeltreffen in St. Petersburg war vorzüglich organisiert» – aus Massemedien-Berichten…

…Zwei Monate später findet in Petersburg, in der Begräbnisstätte für Grossfürsten und -fürstinnen der Peter-Paul-Kathedrale, die Begrabung der überführten sterblichen Überreste der Grossfürstin Maria Fjodorovna – der vorletzten russischen Imperatorin, Gemahlin des Zaren Alexander des Dritten und Mutter Nikolaus des Zweiten, der gebürtigen dänischen Prinzessin Dagmar – statt. Und die Stadt ist wieder gesperrt. Ein unendliches Trauergefolge auf dem Newa-Kai, Polizeiwagen sausen an irgendwelchen Leutchen vorbei, die durch Polizeikordone abgesperrt sind.

…Auf derselben Erde, zur selben Zeit leben Macht und Volk, praktisch ohne sich zu überschneiden. Das sind eine Art ‹parallele Welten›. Wir existieren für sie nicht – weder tot, noch lebendig. Sie existieren für uns auch nicht – das sind keine realen Menschen, sondern nur Reportagenbilder und Fotos aus Zeitungen.

Es ist ja wahr, dass das Gipfeltreffen sehr gelungen war. G8, das Fest der Könige…

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Alexander Komin
Autor, Radioingenieur von Beruf, unabhängiger Kunstkritiker.

*aus dem Russischen von Igor Jermolajew