more work to do
Selbstorganisation in prekären Arbeitsbedingungen
Eine Auswahl von Dokumentationen und Videoarbeiten aus und über selbstorganisierte(n) Arbeitszusammenhänge(n)
moderiert von Madeleine Bernstorff
Vorgeschlagen von: Alex Gerbaulet, Lydia Hamann/Benjamin Cölle/Brighid Mulley, Emma Hedditch, Israeli Center for Digital Art, Johannes Raether/Robert Burghardt, Bärbel Schönafinger/Tobias Hering, Basak Senova, Ian White, The Copenhagen Free University, Christine Woditschka/Sylvia Schedelbauer
Liebe_r
Alex, Lydia, Benjamin, Brighid, Emma, Maya, Johannes, Robert, Bärbel, Tobias, Basak, Ian, Henriette, Jakob, Christine, Sylvia
Für den ersten Teil des Projektes Work to do! im Frühjahr 2007 in der Shedhalle Zürich, hatte ich sehr unterschiedliche Filme und Videos zum Thema Selbstorganisation vorgeschlagen, die von Sönke Gau und Katharina Schlieben in die mit gefundenen Materialien aus Zürich gefüllten Baustoffregale von Folke Köbberling und Martin Kaltwasser integriert wurden. Dabei hatten mich neben historischen Dokumenten wie dem New Deal-Film Our Daily Bread (1934) und Ella Bergmann-Michels Erwerbslose kochen für Erwerbslose (1932) bei Filmen wie z. B. Für Frauen 1. Kapitel und Pierburg Ihr Streik ist unser Streik besonders auch die filmischen Produktionsprozesse interessiert, in die Selbstorganisation auf unterschiedliche Weise eingeschrieben ist.
Für den zweiten Teil des Ausstellungs-Projektes, das im Oktober eröffnet wird, wollte ich Euch nun ansprechen, Filme zur und über Selbstorganisation vorzuschlagen. Das heisst auch Filme, die zur Selbst-Organisation anregen.
Den Prozess des Sammelns von Filmen offen zu legen, als den Diskussionsprozess eines sozialen Zusammenhangs sichtbar zu machen, und den ‚kuratorischen Akt’, die vorgeschlagenen Filme auch als persönlich engagierte Präferenzen zu ent-anonymisieren fand ich bei einem Projekt zu Selbstorganisation angemessen. Viele von Euch haben Erfahrung mit kollektiven, selbst organisierten Arbeitsformen und deren Ambivalenzen. Die Idee ist nun, Euch zu bitten, einen oder mehrere Filme vorzuschlagen und einen kurzen Text zu schreiben, warum Ihr diese/n Film/e besonders wichtig, interessant, diskussionswürdig zum Thema finden, und damit möglichst auch eine Diskussion selbst organisierter Praxis und ihrer Repräsentation anzuregen.
Und natürlich geht es im nächsten Schritt dann darum Strategien der Präsentation zu finden, und eben nicht nur um die Produkte, einen Film, ein Video passend zum Thema. Und darüber nachzudenken, wie trotz der begrenzten (finanziellen) Mittel das Filmezeigen als sozialer Prozess, der in eine gemeinsame Erfahrung und Debatte mündet, möglich sein kann.
Liebe Grüsse, Eure Madeleine
Madeleine Bernstorff
lebt in Berlin. Kinokollektiv Sputnik 1984-88. Filmprogramme, gelegentlich Texte und Super8-Filme. Unterrichtet zu Grenzbereichen des Dokumentarischen. Projekte u.a. mit Elke aus dem Moore, Blickpilotin e.V., AG.BAUSTOP.randstadt,-, AnbauNeueMitte, Jochen Becker, Emma Hedditch, Sandra Schäfer, Marion von Osten.
RA, THE MECHANIC
Mamadou Cissé
Mali 2007, 27 Min., Farbe, Bambara mit engl. Untertiteln
GARCONS MANQUES
Susan Gordanshekan
D 2007, 34 Min., Farbe, Französisch mit deutschen Untertiteln
more work to do
von mir aus, tun wir uns zusammen
Für mich war Selbstorganisation immer schon wichtig. Politik machen und sich nicht nur auf Stellvertreterpolitik verlassen. In Bezug auf Arbeit und Solidarität muss man sich heute aber wohl auch fragen, wann Selbstorganisation anfängt, Lücken im System zu füllen und ein kalkulierbarer Faktor wird, um politische Verantwortung auszulagern. Deshalb ist es immer wichtig, auch Forderungen zu stellen.
Die Filme, die ich ausgesucht habe, sind alle aktuell. Sie dokumentieren in verschiedenen Teilen der Welt individuelle Wege der Organisation und der Vernetzung. Gleichzeitig zeigen alle Möglichkeiten auf, den individuellen Weg kollektiv begehbar zu machen und mit Forderungen zu verbinden.
Ich bin von einzelnen Personen ausgegangen, die mich interessiert haben. Es geht um Arbeit im erweiterten Sinne. Arbeit an und in der Gesellschaft. Und immer auch um Bilder von Arbeit, Bilder, die über Menschen, Regionen, Verhältnisse kursieren und den Versuch, die vorgegebenen Wege zu verlassen und die Repräsentation selbst in die Hand zu nehmen.
Ra, the Mechanic: Ra ist Mechanikerin. Als Frau ist es wohl nirgendwo selbstverständlich und einfach, in einem Männerberuf zu arbeiten. Überhaupt zu arbeiten? Ra will darüber hinaus ihr Wissen auch an andere Frauen weitergeben. Damit sie ein Einkommen haben, selbstständig sind. Ein gutes Beispiel dafür, wie sich Systeme ändern, wenn einzelne Personen sich verändern und aktiv einbringen. Ein Dokumentarfilm mit inszenierten Momenten, die den Personen Spielräume für eine erweiterte Präsenz ermöglichen und sie zu Stellvertretern für einen Beruf, eine Entwicklung werden lassen.
Auch Imane hat viele Rollen. Sie wird von allen als garçon manqué als verkappter Junge bezeichnet; das kommt vielleicht auch daher, dass Fussball ihre Leidenschaft ist. Zusammen mit Sefora, die häufig für einen Jungen gehalten wird, spielt sie in der Fussballmannschaft FC Montfermeil. Imane ist 15 Jahre alt und lebt mit ihrer Familie in der Hochhaussiedlung ‹les Bosquets› im Pariser Vorort Montfermeil, in dem vor zwei Jahren die Vorstadtkrawalle ihren Anfang nahmen. Der Fussballplatz bildet für die Bewohner der Siedlung einen zentralen Dreh- und Angelpunkt ihres täglichen Lebens. Der Fussball ist für Imane ein Ventil, ihr grosses Ziel ist es jedoch vor allem Polizistin zu werden. Nicht eine von den Polizisten, die auf die Leute im Banlieue hinabsehen und ihnen Ärger machen. Gerade weil sie weiss wie es ist, da zu Leben, möchte sie als Polizistin für die Leute da sein. Etwas verändern. Doch als die Krawalle durch ein Fehlverhalten der Polizei für kurze Zeit wieder aufflammen, ist sie hin und her gerissen zwischen ihrem Berufswunsch und der Wut, die sie hat, wenn im Fernsehen sieht, was für rassistische Parolen auch von der Politik gegen die Demonstranten gehalten werden. Sie ist sie bereit, zu demonstrieren, sich zu organisieren und dem Medienbild eine eigene Präsenz entgegenzusetzen.
Alex Gerbaulet
* 1977, Künstlerin, Kuratorin, lebt und arbeitet in Berlin. Filme, Ausstellungen, Symposien u.a. zu Migration, Rassismen, dt. Geschichte und politischen Kunstbegriffen. Mitglied der Künstlergruppe Global Alien. Seit 2007 künstlerische Mitarbeiterin an der HBK Braunschweig im Bereich Film.
BUILDING FESTIVAL
Benni Cölle
2007, 8 Min., Farbe, Englisch
selbstorganisierte arbeit: building festival
infrastruktur/interspace/leiblichkeiten/installation
almost beyond imagination ... a strange adventure into the unknown ...
Das Star and Shadow Cinema ist ein selbstorganisiertes Kino in Newcastle (UK), das ausschliesslich aus voluntären Mitgliedern besteht und von diesen betrieben wird. Dieses Kino existiert mit der Aufgabensetzung, ein unabhängiges Programm inspirierter und inspirierender Filme so kostengünstig wie möglich zu zeigen, als auch ein Veranstaltungsort für Musiker_innen und Künstler_innen zu sein. In der Struktur des Kinos sind Alle potentielle Mitglieder und diese können auch als Volontäre in den unterschiedlichen Funktionen im Kino arbeiten, d.h. programmkuratorische Entscheidungen treffen, als Filmvorführer_innen arbeiten, an der Bar stehen, Karten verkaufen oder die Webseite layouten. Als neuen Ort für das Kino bekam die Gruppe eine ehemalige Fabrikhalle. Dies bedeutete, dass zuerst eine Grundstruktur entworfen und dann Wände gezogen werden mussten, um einen Kinoraum, eine Bar und ein Büro entstehen zu lassen. Um das Kino zu bauen, luden die Organisator_innen zu einem Building Festival ein, welches eine temporäre Heterotopie darstellt, um in den Prozess des Bauens andere mit einzubeziehen. Projektgelder wurden dafür verwendet, Freunde und Personen aus den verwandten Netzwerken und anderen selbstorganisierten Kinos einzuladen, um über mehrere Wochen hinweg zusammen das Kino zu bauen, neue Fähigkeiten zu entdecken und sich an den Prozessen des ‹Spacebuildings› zu beteiligen. Dabei ging es nicht darum, zu arbeiten, um etwas zu repräsentieren, sondern es ging um die bewusste Entscheidung eine Arbeit zu tun, die zunächst nichts anderes zum Ziel hat, als einen Raum zu bauen, der konkret physisch erfahrbar ist. Eine dokumentierende Kamera ging bildlich gesprochen, wie eine Säge von Hand zu Hand und filmte die Arbeitenden beim Wände ziehen, Arbeitschritte einteilen, gemeinsam das Werkzeug benutzen und neue Skills erlernen.
Der durch die gemeinsame Arbeit produzierte Mehrwert bringt Leute aus ganz Europa nach Newcastle. Die gemeinsame Arbeit produziert einen sozialen Raum, welcher entspanntes Arbeiten zulässt. Die Entscheidung, eine alternative Ökonomie in den Konstruktionsprozess einzuschliessen, ermöglichte so andere Kompensationsverfahren. Was ist dieser soziale Raum? Diese infrastrukturelle Arbeit und Selbstorganisation zeigt Räume mit einerseits konkreten Orten andererseits auch die Räume zwischen Individuen, die miteinander befreundet sind und zusammen arbeiten, es ist der Raum der prozessualen Arbeit an der Ökonomie der sozialen Beziehung.
the permanence of shaping of the space.
Die Videoinstallation Building Festival von Benjamin Cölle zeigt eine sich langsam aufspannende Durchquerung von Räumen, Arbeitsabläufen, Materialitäten und hält diese fest mit einem Wunsch, nach der Repräsentation von D.I.Y. (do it yourself) Räumen und nach sinnlichen Markierungen zu fragen. Die Videoinstallation kann als Kommentar zu Verteilungen und als Sichtbarmachung von Prozessen gelesen werden. Die Dokumentation repräsentiert nicht einen Abschnitt von A nach B, sondern die Arbeit war davor und die Arbeit wird weitergehen und zwar immer aus der Position des_r Mitarbeiter_in. Schwarzbilder weisen auf die Lücken der Repräsentation hin und sind bewusste Unterstreichungen des Editierens, es gibt ein Nachdenken über Arbeit und nicht nur die Arbeit selbst steht im Mittelpunkt. Es geht um ein Verstehen von kleinen Zwischenschritten, von Mikro-Arbeitsschritten, die metaphorisch für andere Arbeitsschritte in der Infrastruktur stehen können. Ein gefühlter Raum entwickelt sich, welcher einen Zwischenraum, eine Art ‹Interspace› [Diese ‚Interspaces’ von unterschiedlichen Nicht_Orten von Kommunikationsabläufen sind Zwischenarbeitsschritte, in welchen über ästhetische Verteilung und Akkumulation entschieden wird. Zwischenraum ist Jargon, welcher wie das Chaos oft mit dem gähnenden, hohlen Raum getaggt wird oder mit einer Pause. Deswegen benutze ich hier ‚Interspace’ als erweiterte Möglichkeit Raum im topologischen Sinne zu denken. Space in Verbindungspunkten, so abstrakt dieser Rahmen auch zu denken ist, benennt ein Konzept, in welchem die Dinge nach Form, Geschwindigkeit, Grösse und Abstand miteinander verglichen und abgemessen werden, ohne Raum als eine Art Container zu denken, durch den Objekte sich bewegen.] zwischen privat und öffentlich aufmacht und auch zwischen Freundschaften und Arbeitsverhältnissen. In dieser Raumkonstruktion werden neue Verbindungen gelegt, neue Erscheinungen und Entdeckungen in der Praxis des Einladens eröffnet. Es ist eine kommunitäre Öffnung, des informellen Lernens und Produzierens ohne den Leistungsdruck auf einzelne zu personalisieren. Was sagt diese Selbstorganisation aus? Leute kommen an einen bestimmten Ort und verrichten gemeinsam Arbeiten, obwohl sie es gar nicht professionell gelernt haben. Dies kann als politische Aussage für D.I.Y. Strategien gewertet werden.
performing the gap. Zwischen Entstehung und Installation
Repräsentative Aneignung der Infrastruktur (Kameraarbeit) im Sinne der Aufteilung der Funktionen in D.I.Y. Netzwerken und Communities wirft die Frage auf, wie wir Raum_Spaces denken und für welche Räume wir keine Sprache haben. Insofern kann Selbstorganisation Arbeiter_innen, sowohl als sensible Körper und auch als Produzenten_innen von Gesten, Ökonomien und Beziehungen fassen. Das Video Building Festival kann zeigen, wie sich Prozesse und Entscheidungen in Praktiken und Verhaltensweisen auffächern, um andere Codes zu politisieren, insbesondere in Räumen, deren Versuche der Sichtbarmachung bisher unaussprechbare Phänomene waren. Die Frage zu stellen, wie wir handeln und arbeiten, ist wichtig beim Nachdenken über Selbstorganisation, welche eine Selbstorganisation nicht im ontologischen Sinn von liberaler Gesellschaft meint, sondern gerade in der Ablehnung essentialistischer Konzeptionen von Arbeit und ‹sozialen Körpern› gedacht werden kann.
Welches sind Formen der Selbstorganisation, die sich von der liberalen Form der Regierung der Subjekte abgrenzt und Räume organisiert, in denen repressive Strukturen von Selbstführung dekonstruiert werden können? Es geht darum, Repräsentation zu benutzen, um Infrastrukturarbeit zu denaturalisieren, ihre ökonomischen Kriterien neu zu programmieren, die Arbeit zwischen Produktion und Rezeption, des Vor- und Zurückspulens zwischen Selbst und Anderen, Subjekt und Objekt und zwischen ‹Schreibtisch› und ‹Arbeit› zu verflechten. Die Problematisierung ökonomisch-sozialer Beziehungen und die darin potenzielle Prekarisierung von privaten Dynamiken spielt in der Selbst_organisiation eine grosse Rolle und benötigt habituelle ‹Interspaces›, das Verstehen-Wollen, sowie die Forderung nach Mannigfaltigkeit in einer politischen Gemeinschaft, die eine Gleichheit vor jeden verständlichen Beweis ihrer selbst setzt.
my interspace.
Die selbstorganisierten Strukturen in welchen ich arbeite, sind wie ein kontinuierliches Weiterzeichnen an mehreren Konzepten gleichzeitig und dabei entsteht auch mit jedem neuen Mikroschritt ein erweiterndes Gefühl, so verändert sich auch die Wahrnehmung von schon vergangenen Projekten konsequent mit einer neuen Sprache, einer neuen Erfahrung.
Diese Codes zu benutzen und politisch wahrzunehmen, sowie die Auflösung von Hierarchien in einer höheren Pixelrate, ist eine offene Konzeption von sozialen Räumen, die vor allem in queer-feministischen und D.I.Y. Orten und Theorien praktiziert wird. Inspirierend sind eine Selbstreflektion und das Verwischen von Übergängen, welche mir auch in Institutionen wie der Kunsthochschule, wenn auch eher in der Peripherie, begegnet sind.
bodily work.
In diesen infrastrukturellen Interspaces unterschiedliche Leiblichkeiten zu entdecken und ‹andere› Leiblichkeiten mit einzubeziehen, d.h. Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsstrukturen zu begreifen und zu ändern, erfordert eine unterstützende Repräsentation und ebenso die Möglichkeit von Veränderungen. ‹Mensch› kann nicht mit einer neuen Subjektvorstellung in alten Mustern leben, da ein Scheitern an normativen Strukturen im Raum steht. Infrastrukturelle Arbeit an der Veränderung der symbolischen und ideologischen Strukturen kultureller Repräsentation braucht mehr professionelle Anerkennung, spürbar an der Tatsache, dass es für diese Form der Selbstorganisation einerseits kaum Sprache, Förderungen und Gelder gibt und andererseits diese Form von Auseinandersetzung und das Verstehen-Wollen oft in einer sozial arrangierten Falte ‹verschwindet›, die Sprache verliert oder gar nicht als Sprache angesehen wird.
Wie ‹legal› ist das, was wir machen wollen? Unter Beobachtung verhältst du dich anders.
wer zeigt hier wem was?
Dieser ‹body des Videos› zeichnet und spiegelt Handlungsradien, in denen die Kamera wie ein ‹Tool› benutzt wurde, bei dem es nicht nur um den Event building festival geht, sondern um die Vielschichtigkeit von Arbeit. Vor allem durch die Omnipräsenz des Sounds wird diese Prothese von Arbeit in den Ausstellungsraum hinein gehoben. Erst durch den close up im Video wird Arbeit fassbar, davor ist es einfach nur Lärm.
In den Ausstellungsraum soll die gleiche Fragestellung nach ‹Interspace› transportiert werden, nicht die Frage von wie wird repräsentiert, sondern welche erweiterte Form von miteinander Arbeiten ist denkbar?
In dem Interview von Brighid Mulley mit drei der Initiator_innen des Kinos wird die Frage gestellt wie eine künstlerische Praxis mit 8 und 16mm Filmen in selbstorganisierten Räumen funktioniert und welche ästhetische Arbeit diese beeinflusst bzw. strukturiert. Es weist darauf hin dass die Arbeit mit Filmen und die Arbeit im selbstorganisierten Kino sich integrieren lassen.
Lydia Hamann
* 1979, studierte Kunstgeschichte und Bildende Kunst in Berlin und Wien, lebt zurzeit in Berlin arbeitet dort als bildende Künstlerin und feministische Aktivistin in informellen, selbstorganisierten Räumen und kuratiert Performances in der Raumerweiterungshalle.
SCUOLA SENZA FINE
Adriana Monti und LehrerInnen des Kurses 150 hours
Italien 1979-1981, 1983, 36 Min., s&w, Italienisch mit englischen Untertiteln
Eine gute Freundin, Cecilia Wendt, und ich hatten etwas über diesen Film in Giuliana Brunos und Maria Nadottis Buch Off Screen: Women and Film gelesen. Ich bin interessiert an Bewusstseinsschärfung sowie Filmkollektiven von Frauen im England, und Cecilia interessiert sich für Bildung und Film. Wir begaben uns auf die Suche nach Adriana Monti und hatten schliesslich Erfolg.
Adriana wollte den Film sehr gern verbreiten, sie besass bereits eine Videokopie. Cecilia stellte eine DVD und mit der Hilfe ihrer Tante eine Übersetzung ins Englische her.
Die 150-Stunden-Kurse sind ein pädagogisches Experiment, das seit 1974 in Italien durchgeführt wurde.
Am Anfang war es für Fabrikarbeiter und Bauern gedacht und wurde einige Jahre später auch Frauen zugänglich gemacht. Die Kurse waren nicht als berufliche Fortbildung gedacht, sie waren nicht darauf aus, die Arbeitsproduktivität zu steigern, sondern sie sollten zum persönlichen und kollektiven Wachstum beitragen. Durch die Kurse sollten die Arbeiter nicht nur ihre eigenen Arbeitsbedingungen sondern auch ihr gesamtes Leben besser reflektieren können. Ein grosser Teil der Kurse diente der Verarbeitung und Neuinterpretation der so genannten ‹Lebenserfahrung› der Anwesenden; ihrer Erfahrungen mit Arbeit, Emigration, kultureller und sozialer Diskriminierung, Gewerkschaftskämpfen, usw.
Der Film zeigt, wie dieses Experiment in das Leben der Frauen, die meisten von ihnen Hausfrauen, hineinwirkte. Der Film war als Teil des Kurses entstanden, um Fragen hinsichtlich der Repräsentation von Frauen und ihrer Selbstrepräsentation nachzugehen.
In ihrer Einleitung zum Film schreibt Adriana Monti:
«Nachdem ich ein Jahr lang mit einer Hausfrauengruppe gearbeitet hatte, begannen wir 1979, sozusagen nebenbei, den Film Scuola Senza Fine (wörtlich Schule ohne Ende) zu drehen. Ich hatte das Equipment umsonst zur Verfügung gestellt bekommen und wir hatten Geld zum Drehen des Films erhalten.
Die wieder entdeckte Freude am Lesen und Lernen versetzte die Frauen in ihre Jugend zurück. Es war wichtig für sie, eine Lehrerin zu haben, der sie schreibend mitteilen konnten, was sie gemacht und gedacht hatten, ihre Vergangenheit und ihre Zukunftspläne.
Der Film zeigt, wie die Frauen miteinander umgingen und welche Nähe sie zueinander empfanden vielleicht, weil sie aus der gleichen Gegend kamen oder ähnliche Ideale und Denkweisen hatten, oder einfach, weil sie einander mochten. Für viele Frauen bedeutete das Wiederentdecken der Mutter-/Lehrerin-Beziehung, dass sie Gedanken äussern konnten, die viele von ihnen unterschätzt oder verdrängt hatten (die meisten Hausfrauen im Kurs hatten ihre Ausbildung aufgegeben um zu arbeiten, oder konnten ihr bereits vorhandenes Wissen nicht anwenden, da sie nach der Heirat zu Hause geblieben waren).»
Ich habe den Film ausgewählt, da er diese experimentellen Kurse dokumentiert und allgemein etwas von der 150-Stunden-Initiative zeigt; ausserdem wegen des Versuchs der Filmemacherin, kollaborativ mit den Frauen im Kurs an der Herstellung eines Selbstbildes zu arbeiten.
Emma Hedditch,
Künstlerin, lebt in London und ist ausserdem Managerin von Cinenova eines Verleihs von Filmen und Videos von Frauen.
APRIL 1st; DOCUMENTATION OF AN ACTION
Artists Without Walls
Israel, Palästina 2004, 18 Min., Farbe, Englisch
Artists Without Walls (Künstler ohne Mauern) ist ein Forum palästinensischer und israelischer Künstler aus verschiedenen Sparten, die sich in Ost-Jerusalem und Ramallah treffen. Es ist Absicht des Forums, gegen Trennmauern und -linien zu protestieren und mit künstlerischen Mitteln einen Diskurs zwischen Palästinensern und Israelis zu schaffen. Das Forum entstand aufgrund der Erkenntnis, dass Demonstrationen nur mehr Gewalt erzeugen und die getrennten Gegner davon abhalten, innerhalb der israelischen Gesellschaft zu operieren. Die Gruppe ist fest davon überzeugt, dass es für keine von beiden Seiten Frieden geben kann, solange die andere Seite in Furcht und Schrecken lebt, dass die wahren Werte der Gleichberechtigung in der Begegnung beider Seiten liegen und dass die Normalisierung des ‹Alltags› den Hass vertreiben und bei der Schaffung eines Friedensweges helfen kann.
Der 1. April ist die Dokumentation einer Aktion, die im April 2004 in Abu-Dis (einem palästinensischen Dorf in der Nähe Jerusalems) auf beiden Seiten der neuen Trennmauer, die durch das Dorf verläuft, stattfand. Dies war die erfolgreichste Aktion der Gruppe, während der sie auf beiden Seiten der Mauer ein virtuelles Fenster schuf. Zwei Überwachungskameras wurden punktgleich auf beiden Seiten der Mauer platziert. Die Kameras waren mit Projektoren verbunden, die die Sicht auf die jeweils andere Seite in Echtzeit projizierten. So ermöglichte ein virtuelles Fenster, dass beide Seiten sich sehen konnten. Die Kameras liefen in einem Meter Abstand voneinander und machten dadurch aus Überwachungs- und Kontrolltechnologie ein Spektakel, das darauf zielte, die Missachtung von Menschenrechten in das Bewusstsein der Medien und der israelischen Öffentlichkeit zu bringen. Die Aktion schuf auch einen Rahmen, innerhalb dessen man die Mauer mit seinen eigenen Augen sehen und die Grösse der Mauer im Verhältnis zum eigenen Körper in Echtzeit und im wirklichen Raum erfahren konnte was sie der Abstraktion von Fernsehnachrichten und Zeitungsseiten entledigte.
Die Reaktionen der Besucher waren erstaunlich. Da die Mauer, die in Abu-Dis errichtet wurde, nicht nur ein Beispiel für die Trennung von Israelis und Palästinensern, sondern auch für die Abtrennung der Palästinenser untereinander ist, entstand zwischen den Bewohnern beider Seiten, die an der Aktion teilnahmen, eine besondere Nähe und Verbundenheit. Die Besucher brachten Gartenstühle von zu Hause mit und sassen mit anderen, die sie auf der anderen Seite sahen, zusammen. Sie unterhielten sich per Mobiltelefon und freuten sich, die Gesichter der anderen durch die sieben Meter hohe Barriere zu sehen. Es war einmaliges Schauspiel; die Armee war anwesend, aber grundlos.
Artists Without Walls sagt: «Ein Fenster in der Mauer zu öffnen ist gefährlich, denn was wir im Grunde wollen, und der Grund, weshalb wir uns zusammengetan haben, ist die Beseitigung der Mauer…» Mit einem Projekt gegen die Mauer erfordert das Vidio Der 1. April eigentlich, ohne Mauer oder Wand projiziert zu werden. Würde man es beispielsweise auf einen durchsichtigen Träger projizieren, könnte das Videodokument von beiden Seiten gesehen werden wie das Fenster im Raum, von dem Artists Without Walls sprechen, und wenn es im Verhältnis 1:1 projiziert würde, könnte der Betrachter in eine unmittelbare körperliche Beziehung zu den Ereignissen des 1. Aprils treten.
Durch den kuratorischen Akt hat man selten die Kontrolle über einen fremden Ausstellungsort. Ich erfuhr, dass das Shedhalle Team die Arbeiten auf Fernsehmonitoren zeigen würde. Innerhalb der Proportionen eines Fernsehgeräts wird aus Der 1. April ein autonomes Dokument ähnlich den Nachrichten ein virtuelles Spektakel ohne den körperlichen Bezug was von einem der Ziele der Arbeit ablenkt. Greifbar ist die Anklage der Verletzung von Menschenrechten. Während die Fernsehnachrichten einen Bruch zwischen der Welt der Israelis und der der Palästinenser zeigen, ist das einzigartige an Der 1. April, dass er eine zusätzliche Geschichte bietet: einen Blick auf die Wirkung der Mauer, der enthüllt, dass das, worum es geht, die Trennung der Palästinenser von ihren eigenen Familien und Gemeinschaften ist. Es ist auch der Blick in eine mögliche Selbstorganisation von Palästinensern und Israelis, um gemeinsam die Barrieren ihrer geteilten Realität einzureissen.
Maya Pasternak
ist Assistant Curator am Israeli Center for Digital Art und Ko-Direktorin des Internationalen Videoarchivs des Zentrums. Das Israeli Center for Digital Art ist eine dynamische Plattform für die Reflexion, Produktion, Präsentation und Analyse zeitgenössischer Kunst. Es versucht, den Diskurs in der israelischen Gesellschaft zu stimulieren, indem es einen Grossteil seiner Arbeit Kunstprojekten widmet, die Fragen zu Identität, Ethnizität, Nationalismus und Kulturaustausch stellen.
DAS IST UNSER HAUS
Rauch-Haus-Kollektiv
BRD 1973/74, 73 Min., s&w, Deutsch
GLÜCKWÜNSCHE
MeineAkademie
D 2006, 13 Min., Farbe, Deutsch
In unserer Auswahl zum Filmprogramm von more work to do möchten wir zwei Positionen auf dem Feld der Selbstorganisation aus verschiedenen Zeiten gegenüber stellen: Beide kreisen um einen Begriff von Bildung. Bildung ist für uns neben Arbeit eines der zentralen Felder, auf dem sich Menschen immer wieder gegen die herrschenden Verhältnisse organisiert haben, um die ‹eigene› Praxis, der jeweils gültigen entgegenzusetzen.
Dieses Feld wollten wir möglichst weit öffnen. Es geht uns darum, nicht nur Schulen und Hochschulen ins Blickfeld von Selbstorganisation und Bildung zu stellen. Bildung begreifen wir viel mehr als Vorraussetzung von gesellschaftlicher Teilhabe und der Möglichkeit, seine Umwelt als gestaltbar zu denken. Bildung ist für uns damit auch selbst ein Ort der gesellschaftlichen Produktion und nicht lediglich Zulieferbetrieb für Nachwuchskräfte, individuell motivierte Selbsttechnik und schon gar kein Bereich, der von der kapitalistischen Wertschöpfung ausgenommen ist. Aus unserer Sicht hat das Verhältnis von Arbeit und Bildung die Formen von Selbstorganisation gegen Arbeit durch Bildung immer wieder verändert. Auf dieses sich immer wieder verändernde Verhältnis wollen wir mit unseren zwei sehr verschiedenen Ausschnitten selbstorganisierter Praxis an der Schnittstelle von Arbeit und Bildung hinweisen.
Westberlin, Dezember 1971: Mehrere hundert Lehrlinge, Schüler, junge Arbeiter und Jugendliche, die aus Heimen abgehauen waren, besetzten einen Teil des leerstehenden Bethanien-Krankenhauses in Kreuzberg. Sie wollen ihre beschissene Wohn- und Freizeitsituation selbst ändern. Was seitdem im Georg von Rauch-Haus geschehen ist, das zeigt der Film Das ist unser Haus, eine Dokumentation des WDR. Die Dokumentation wurde von Reportern produziert, die mit den Jugendlichen drei Wochen im besetzten Haus wohnten und deren erklärtes Anliegen es ist, einem breiteren Publikum in der extrem aufgeheizten Situation einen Einblick in die Wohn- und Lebensverhältnisse der Besetzer zu vermitteln.
Der Film beginnt mit der Geschichte der Besetzung und dem Kampf um den Erhalt des Hauses Demonstrationen, Verhandlungen, Diskussionen im Plenum und ein guter Schuss revolutionäre Romantik. Er zeigt die Schwierigkeiten mit der Selbstorganisation und die Notwendigkeit, die gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse auch ausserhalb des Hauses anzuwenden.
Der Film der Gruppe MeineAkademie aus dem Jahr 2006 ist die Dokumentation einer ungebetenen Jubiläumsfeier im Foyer der ‹Volkswagen Universitätsbibliothek› in Berlin. Zum 1-jährigen Jubiläum nahm die Gruppe die Identität einer imaginären Organisation namens ‹My-Academy Student Relations› an. ‹MyAcademy› gab vor, eine von Studenten selbstinitiierte Organisation zu sein, die «die Kommunikation zwischen Volkswagen und den Studenten herstellen, beziehungsweise verbessern» wollte. In dieser Verkleidung verteilte MeineAkademie kritische Hintergrundinformationen zu den Investitionen von Volkswagen an der Hochschule und die für Volkswagen sehr vorteilhafte Einkaufstour an den beiden Universitäten.
Die gewählte Aktionsform ist ein bissiger Kommentar zu den veränderten Bedingungen von Selbstorganisation heute: ‹MyAcademy Student Relations› spielt auf studentische Selbstorganisation wie die Firmenkontaktmesse ‹Bonding› an, die jährlich an zehn verschiedenen Universitäten Deutschlands, unter anderem an der TU Berlin, stattfindet. Bei ‹Bonding› stellen Studenten die Kommunikation und die Kontakte zwischen der Wirtschaft und sich selbst als Nachwuchsarbeitskräften her. Die Organisation ist ehrenamtlich und eigeninitiativ.
Meine Akademie setzt sich mit diesem Zitat in ein widersprüchliches Verhältnis zu den eigenen politischen Ansprüchen und Traditionen oppositioneller Arbeit an der Hochschule einerseits, und dem Nutzwert von Selbstorganisation für das Bestehen der Subjekte im globalen Wettbewerb, welcher Fähigkeiten wie Eigeninitiative und Teamfähigkeit unbedingt einfordert, andererseits.
Beide Filme sind paradigmatisch für das Verhältnis der ‹Selbstorganisierten› zum Begriff ihrer Selbstorganisation in der jeweiligen Zeit. In den 70er Jahren war die Hoffnungen auf Emanzipation die zentrale Motivation für Selbstorganisation, während Selbstorganisation heute eben auch als Bestandteil von Managementstrategien in fremdbestimmte Produktionskreisläufe fest integriert ist. Die Dokumente aus den 70ern zeigen für uns die Hoffnung auf grundlegende Veränderung durch Selbstbestimmung und den Kampf um ein Verständnis des eigenen Tuns und eine eigenen Sprache in ewigen Plenumsdiskussionen. Auf dem Marsch durch die Institutionen in die Denkfabriken ist dem Begriff der Selbstorganisation seitdem jene Hoffnung verloren gegangen. Ebenfalls verloren gegangen ist aber auch die oft moralinsaure Ernsthaftigkeit des Plenums, das Zwanghafte des Kollektivs und die identitäre Aufladung mit den Zeichen der unbedingten Opposition. Wir meinen, dass alle jene Verluste, die produktiven, sowie die zerstörerischen, im Spannungsfeld der beiden Dokumentationen sichtbar werden.
Die Widersprüchlichkeit von Selbstorganisation heute, ermöglicht es uns als ProtagonistInnen mit dem ganzen Arsenal an widersprüchlichen ästhetischen Formen, ambivalenten Organisationen und einer viel grösseren Bereitschaft zu Spiel und Performanz zu handeln, um letztendlich ähnliches zu erreichen, was den Bewohnern des Rauchhauses für eine kleine Weile gelang: Sich der Umarmung durch Kapital und neoliberale Arbeitsverhältnisse zu entziehen.
MeineAkademie
bildete sich im Dezember 2004 als politische und künstlerische Gruppe in Reaktion auf den Sponsoringdeal der neuen Universitätsbibliothek der Technischen Universität und der Universität der Künste in Berlin. Seitdem recherchierte die Gruppe zu den ökonomischen und politischen Hintergründen, die zur ‹Volkswagen Universitätsbibliothek› geführt haben und veranstaltete Seminare und Infokampagnen an der Universität. MeineAkademie hat sich die kritische Begleitung des neoliberalen Umbaus der Hochschule vorgenommen und versucht, das veränderte Verhältnis von Staat und Wirtschaft zu beschreiben. Dabei diente insbesondere die Corporate University des Volkswagenkonzerns, die ‹Volkswagen Auto-Uni› als Modellfall.
Johannes Raether und Robert Burghardt
sind Mitglieder der Gruppe. Sie sind Künstler, Architekten, Aktivisten und Autoren und in
jahrelanger Arbeit in selbstorganisierten Zusammenhängen bestens für den liberalisierten Arbeitsmarkt in der Kulturindustrie ausgebildet.
www.meineakademie.tk
DER EINZIGE WEG EIN FILM ÜBER DIE FRIEDENSGEMEINDE SAN JOSÉ DE APARTADÓ
Bärbel Schönafinger und Tobias Hering
D 2006, 75 Min., Spanisch mit dt. Untertiteln
Die Friedensgemeinde San José de Apartadó (Kolumbien) Selbstorganisation als Überlebensstrategie im Kriegszustand
Die Friedensgemeinde San José de Apartadó steht in der Tradition einer emanzipatorischen Phase von Selbstorganisation und Aktivismus, die in den 80er und frühen 90er Jahren vor allem in den ländlichen Regionen Kolumbiens eine politische Aufbruchstimmung schuf. Die nordwestliche Region Urabá, zu der San José gehört, wurde zur Hochburg der Linkspartei Union Patriotica (UP). Gewerkschaftliche und kollektive Strukturen waren vergleichsweise stark verankert und sorgten für ein hohes Mass an politischer und ökonomischer Selbstorganisation.
Durch eine beispiellose Welle staatlicher und paramilitärischer Gewalt wurden diese Strukturen bis 1995 weitgehend ausgelöscht. In wenigen Jahren wurden in der Region rund 1.200 politisch Aktive ermordet, die UP physisch vernichtet und die Gewerkschaften vertrieben. Die Menschenrechtsaktivistin Gloria Cuartas, die einige Jahre UP-Bürgermeisterin in Apartadó gewesen war, beschreibt diese Phase im Film als einen «politischen Genozid von Seiten des Staates». In Folge der «politischen Säuberung» eigneten sich die Paramilitärs das Land tausender vertriebener Bauern an.
Heute ist die politische und ökonomische Infrastruktur der Region fest in der Hand der Paramilitärs. Deren von Präsident Uribe publicitywirksam betriebene «Demobilisierung», ihre «Rückkehr ins zivile Leben», bedeutet faktisch die Legalisierung des geraubten Besitzes und eine weit gehende Amnestie für die begangenen Massaker. Der Film versucht, das Projekt ‹Friedensgemeinde› vor dem Hintergrund dieses anhaltenden, militärisch ausgetragenen Konflikts zu verstehen, in dem es wesentlich um Land geht und der in den Biographien aller Mitglieder der Gemeinde eine einschneidende Rolle spielt.
Vom Notwehrakt zum politischen Projekt
Die Friedensgemeinde gründete sich im März 1997. Unmittelbar voran gegangen war eine besonders massive Serie von Massakern und militärischen Angriffen gegen die Bauern in der Umgebung von San José. Sie flüchteten aus den attackierten umliegenden Weilern in den Dorfkern San José und beschlossen zu bleiben und die noch zugänglichen Ländereien kollektiv zu bewirtschaften. Anstatt wie Zigtausende vor ihnen in die Slums von Bogotá oder Medellin zu fliehen, setzten sich die Bauern durch diese bewusste Selbstermächtigung wieder in den Stand, auf die Felder zu gehen und weiter als Bauern zu leben. Bei der Gründung der Friedensgemeinde verkündeten sie zudem öffentlich ihre Neutralität gegenüber allen bewaffneten Gruppen: dem kolumbianischen Militär, den Paramilitärs und der Guerilla.
Selbstermächtigung durch Gruppenarbeit
Jedes arbeitsfähige Mitglied der Gemeinde ist Teil einer Arbeitsgruppe, die sich auf einen bestimmten Bereich der kollektiven Subsistenzsicherung konzentriert. In der Form einer flachen Hierarchie hat jede Arbeitsgruppe eine/n KoordinatorIn. Die KoordinatorInnen bilden gleichzeitig den Gemeinderat, das höchste politische Entscheidungsgremium der Friedensgemeinde. Die Gruppenarbeit ermöglicht es den Bauern, ihre Arbeitszeit auf den Feldern effektiver zu nutzen und sich, wenn auch unbewaffnet, gegenseitig zu schützen. Wenn es jetzt zu Gewaltakten kommt, gibt es Zeugen.
Die Mitglieder der Friedensgemeinde fordern vom Staat das Recht ein, als ZivilistInnen zu leben, ohne mit einer der bewaffneten Gruppen identifiziert zu werden. Die Erklärung der Neutralität gegenüber den Kriegsparteien folgte auf die bittere Erfahrung, dass die Zivilbevölkerung immer wieder zwischen den Fronten aufgerieben und von allen Seiten mit Abschreckungs- und Vergeltungsmassnahmen für vermeintliche Kollaboration mit dem jeweiligen Feind überzogen wurde. Die ‹Neutralität› war zunächst ein symbolischer Schritt, denn natürlich war den Bauern bewusst, dass die Aggression nicht etwa auf einem Missverständnis beruhte, das sich mit einer einseitigen Neutralitätserklärung aus dem Weg räumen liesse. Auch die Gründung der Friedensgemeinde hat nicht verhindert, dass seit 1997 weitere 170 Gemeindemitglieder ermordet wurden, meist diejenigen, die als ‹Lider› oder Sprecher öffentlich erkennbar waren. 80% der Morde gehen auf das Konto der stets gemeinsam agierenden Militärs und Paramilitärs, 20% der Morde hat die Guerilla zu verantworten.
Auf die Neutralitätserklärung reagierte Präsident Uribe damit, dass er die Friedensgemeinde öffentlich der Kollaboration mit der Guerilla bezichtigte und dadurch de facto zur Kriegspartei und zum militärischen Ziel deklarierte. Als im April 2005 nach einem nachweislich vom Militär verübten Massaker in San José ein Polizeiposten errichtet wurde, verliess die Gemeinde San José, um ihre Neutralität zu wahren, und erbaute unweit ein neues Dorf: San Josesito.
Selbstorganisation und Autonomie
Heute basiert die Infrastruktur der Friedensgemeinde wesentlich auf Selbstorganisation und einer möglichst weit reichenden Autonomie gegenüber dem Staat. Dabei wird sie massgeblich von internationalen NGOs unterstützt. Peace Brigades International begleiten die Gemeindesprecher, um sie vor Gewaltakten zu schützen. Im Ort gibt es mittlerweile eine von einer spanischen NGO unterstütze Schule. Dank einer Sachspende aus Deutschland wurden unlängst Sonnenkollektoren installiert, die die Gemeinde unabhängig von der labilen und sabotageanfälligen öffentlichen Stromversorgung machen. Andere Unterstützerprojekte dienen der Aufarbeitung von Gewalttraumata und der Hilfe im Umgang mit der psychischen Belastung im Kriegszustand. Die Kontakte zu den NGOs gewährleisten, dass es internationalen politischen Druck auf die Regierung Uribe gibt, wenn Gemeindemitglieder ermordet werden.
Von der Gemeinde selbst organisiert wird wiederum die ‹Schulung› neuer Mitglieder in Workshops, in denen die Prinzipien und das Funktionieren der Gemeinde erläutert werden. In diesen Workshops wird auch Neuankömmlingen der Schritt nachvollziehbar gemacht, den die Gemeinde als Ganze seit ihrer Entstehung machen musste: von einem aus einer existenziellen Bedrohungslage hervorgegangenem Notwehrakt sich zu einem bewussten politischen Projekt zu entwickeln.
Bärbel Schönafinger
lebt und arbeitet als selbstständige Filmemacherin und Videojournalistin in Berlin. Sie hat den alternativen Internetvideosender kanalB.org gegründet und produziert politische Dokumentationen und Netzt basierte Echtzeitreportagen von Netzwerkveranstaltungen der Antiglobalisierungsbewegung. Ausserdem ist sie ein aktives Mitglied des globale filmfestival Kollektivs.
Tobias Hering
lebt und arbeitet in Berlin. Neben seiner Arbeit als freier Journalist für verschiedene Zeitungen, Zeitschriften und Webseiten, organisiert und kuratiert er Filmprogramme und informelle Filmvorführungen. Er ist ein aktives Mitglied des kanalB-Kollektivs und des globale filmfestival Kollektivs.
Bärbel Schönafinger und/and Tobias Hering
haben das Installationsvideo Deutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen (2004) und die Dokumentation Der einzige Weg (2006) verfasst.
OF ONE ESSENCE...
Negar Tahsili
Iran 2004, 2:30 Min., Farbe
WHAT’S BEHIND (THE URBAN PROTOTYPES PROJECT)
Hristina Ivanoska
Mazedonien 2003, 3 Min., Farbe
«Animationsfilme für veränderte Sichtweisen»
Meine Auswahl steht in subtilem Gegensatz zu axiomatischen Zwängen jeglicher Art. Zwei Animationsfilme zeigen die gleiche zynische Herangehensweise an einen ähnlichen Hang zur Falschheit. Hinsichtlich der furchtbaren Dinge, die auf dem Globus passieren, tun sich beträchtliche Abgründe zwischen den Realitätswahrnehmungen auf. Was sind die tatsächlichen Wahrnehmungsweisen der Menschen, die all das unmittelbar erleben? Welche lokalen und globalen Effekte und Konsequenzen haben diese Erlebnisse? Wie verhält es sich mit den widersprüchlichen Berichten, die den Informationskanälen und alternativen Quellen entströmen? Was uns am Ende bleibt sind die Täuschungen, die ihre Wirkung auf verschiedene Realitäten ausgeübt haben. In dieser Hinsicht betont der halbdokumentarische Charakter der Animationsfilme den fiktionalen Reichtum, der die Wirkungen und Reaktionen verschiedener Wahrnehmungen belebt. Die Existenz dieser unterschiedlichen Wahrnehmungen bedingt die gegenwärtigen Zwänge der Globalisierung, die für jede Sichtweise Druck, Masslosigkeit und Unsicherheit bedeuten. Daher sind die einzig verfügbaren Werkzeuge für eine klare Sichtweise die potentiellen Verteidigungs- und Überlebensmechanismen der Selbstorganisation.
Of one essence (Aus einem Stoff)
Der Titel dieses Animationsfilms stammt aus dem berühmten Gedicht des persischen Dichters Saadi, das den Eingang zur Halle der Nationen im UNO-Gebäude in New York schmückt:
«Die Menschenkinder sind ja alle Brüder
aus einem Stoff wie eines Leibes Glieder
hat Krankheit nur einzig Glied erfasst
So bleibt anderen weder Ruh und Rast»
[Übersetzung aus Karl Heinrich Graf, in: Dieter Bellmann (Hg.): Muslih ad-Din Saadi: Der Rosengarten. München: 1998.]
Die Arbeit simuliert verschiedene Realitäten, die durch die Televisionsmedien gefiltert sind; auf deutliche Weise zeigt sie unsere veränderten Sichtweisen und die grosse Illusion von der so genannten objektiven Realität der Information.
What’s Behind (Was dahinter liegt) (The Urban Prototypes Project)
Der Animationsfilm ist ein Versuch, der nomadischen Spur des zeitgenössischen Flüchtlings einen Rahmen zu geben. Gegenüber den vielen Belangen, die um das Überleben, um Sicherheit, Freiheit, wirtschaftliche Unabhängigkeit und Lebensstandards kreisen, korrelieren die Szenen mit verschiedenen Überlebens- und Daseinsweisen unter den gegenwärtigen Bedingungen der Globalisierung. Geräte und tragbare funktionale nomadische Werkzeug bieten neue Möglichkeiten und Denkweisen für eine selbstorganisierte Lebensform.
Basak Senova
ist Kuratorin, Autorin und Designerin und lebt in Istanbul. Sie hat einen MFA in Grafikdesign, hat in Kunst, Design und Architektur promoviert sowie am Kuratorischen Ausbildungsprogramm von Stichting De Appel in Amsterdam teilgenommen. Sie ist Herausgeberin von art-ist 6, dem Onlinemagazin Kontrol und die Organisatorin von ctrl_alt_del und Upgrade!Istanbul. Sie ist Direktorin von NOMAD und unterrichtet zurzeit an der Universität Kadir Has. http://www.nomad-tv.net
AFTENLANDET (Evening Land)
Peter Watkins
Dänemark 1977, 109 Min., Farbe, Dänisch mit engl. Untertiteln
Der Untergang des Abendlandes
Das Beispiel 2007
Dänemark ist international bekannt durch zwei spektakuläre Ereignisse der aktuellen sozialpolitischen Geschichte: die Krise um die Mohammed-Karikaturen von 2005 sowie die Krawalle nach der Räumung des Jugendhauses, einem anarchistischen Sozialzentrum in Kopenhagen im Jahr 2007. Interessant in Hinblick auf beide Ereignisse ist das Ausmass an Unruhe, dass beide hervorbrachten, und die Tatsache, dass die massive Eskalation beider Konflikte alle überraschte: die Politiker, die Medien und auch die Protestierenden. Beide Ereignisse zeigten, dass die Menschen an der Macht erschüttert werden konnten. Sie förderten die Zerbrechlichkeit ihrer Macht zu Tage und was diese zu ihrem Erhalt zu tun bereit sind.
Die Mohammed-Karikaturen und die Räumung des Jugendhauses waren Ereignisse, die ihren ursprünglichen Rahmen sprengten. Sie gaben den Anlass, grosse Mengen an Ärger und Frustrationen loszuwerden, die sich innerhalb einer viel grösseren ideologischen Kampagne angestaut hatten. Diese Kampagne war von Leuten mit politischer und ökonomischer Macht orchestriert worden, nicht nur innerhalb des dänischen Nationalstaats sondern weltweit. Im Falle der Karikaturen betraf sie die westliche Globalisierung und Arroganz, die sich seit dem Fall des Eisernen Vorhangs verbreitet hatte dem Hintergrund für die weit verbreitete Unruhe, die in der muslimischen Welt durch die Veröffentlichung der Karikaturen entstanden war. Die Karikaturen waren nur ein Symbol. Aber dieses Symbol hatte seine Wurzeln in diesem kleinen skandinavischen Staat namens Dänemark, bekannt für seine aus den 1970er Jahren stammende Sozialdemokratie und Wohlfahrtsstaatlichkeit.
Die Jugendhaus-Krawalle waren ebenfalls eine Reaktion auf einen besonderen sozio-politischen Vorfall, aber das massive Ausmass der Unruhe und Krawalle, die auf die Räumung folgten, haben auch mit der generellen politischen und sozialen Situation in Dänemark zu tun. Die Krawalle waren ein Ereignis, das viele als Möglichkeit zur Reaktion begrüssten. Viele Leute, die nichts mit dem Jugendhaus zu tun hatten, beteiligten sich an den Krawallen. Dass allgemeine Gefühl von Entmachtung brachte sie auf die Strasse. Die politischen Ziele der Krawalle Monate nach der Schliessung des Jugendhauses waren ziemlich diffus mit dem Jugendhaus als Leitmotiv, aber der Hintergrund war viel komplexer. Es handelte sich um einen wilden Ausbruch, der unweigerlich um viel mehr Themen kreiste als um das Jugendhaus selbst: die wachsende soziale Spaltung der Gesellschaft, die offizielle rassistische Ausrichtung der Regierung, die Tatsache, dass Dänemark Teil der Koalition im Irak ist, der allgemeine Angriff auf alternative und ethnische Lebensstile, den es seit 2001 in Dänemark gibt und vielleicht noch mehr.
Von Kopenhagen aus betrachtet sind die Karikaturen-Krise und der Jugendhaus-Krawall eng mit der gegenwärtigen Politik der rechtslastigen dänischen Regierung und dem so genannten ‚Kulturkampf’ verknüpft. Dieser Kampf der Weltanschauungen war sofort nach dem Regierungsantritt 2001 ausgerufen worden. Der Kampf zielte darauf, die ‚dänischen Werte’ wieder aufzurichten und hatte zwei Stossrichtungen: eine gegen die so genannte mittelalterliche Kultur der muslimischen Gemeinschaften in Dänemark, die andere gegen die linke Kultur und ihre angebliche Infiltrierung von Medien und öffentlichen Einrichtungen. Er dämonisierte allgemein alternative oder abweichende Lebensstile, die traditionell mit der Linken in Verbindung gebracht wurden.
Die Karikaturen-Krise war durch eine direkte Provokation des Kultusministers ausgelöst worden, der angesichts möglicher Auswirkungen von muslimischer Seite seiner Sorge um die künstlerische Freiheit Ausdruck verliehen hatte. Er sagte, dass Künstler die Freiheit haben sollten, auf den Muslim zu pinkeln, wenn sie das wollten. Diese Einladung war von der nationalen Zeitung Jyllandsposten aufgegriffen worden, die die Mohammed-Karikaturen innerhalb weniger Wochen nach der Anfeuerung durch den Minister veröffentlichte. Auf der anderen Seite des Kulturkampfes hatte der Angriff auf alternative Lebensformen zuerst mit einer Initiative zur ‚Normalisierung’ des Freistaates Christiania in Kopenhagen begonnen. Der Begriff ‚Normalisierung’ wurde zum Schlüsselbegriff der Regierung, ein Begriff, der den Angriff auf und die Kriminalisierung von Subkulturen und bereits marginalisierten Gruppen beinhaltete sowie das Ziel, alle Menschen innerhalb des heiligen Landes der marktwirtschaftlichen neoliberalen Identität zu vereinnahmen. Dabei bestand das Vorgehen der Normalisierung Christianas nicht in der physischen Entfernung der ehemaligen Hausbesetzer, sondern im Angriff auf den kollektiven Besitz der Gebäude innerhalb des Freistaats. Der clevere Schachzug der Regierung bestand darin, den Bewohnern die Häuser als Privateigentum anzubieten. Durch das Versprechen privaten Besitztums griff sie das Verbot der grundlegenden Idee des Freistaats als kollektivem Besitz und kollektiv geführter Gemeinschaft an. Die Karte ‚Privatbesitz’ wurde ebenfalls im Zusammenhang mit der Räumung des Jugendhauses gespielt. Die Regierung lehnte sich einfach zurück, ohne in den Konflikt einzugreifen, indem sie behauptete, dass es sich um eine Angelegenheit des Privatbesitzes handele, an der sie nichts ändern könne. Dies bezog sich auf die Stadtverwaltung, der das Jugendhaus bis 2001 gehört hatte, als plötzlich beschlossen wurde, dass das Gebäude verkauft würde, ohne die Besucher des Sozialzentrums vorher zu konsultieren. Ein sehr einfaches Mittel, um ein soziales Problem loszuwerden: Biete es zum Verkauf an und überlasse es dem freien Markt. Und wer nahm das Problem auf? Eine rechte christliche Sekte, das Vaterhaus, kaufte das Haus genau mit dem Ziel, eine definitive Lösung der sozialen Probleme der Jugendlichen, die das Haus als Treffpunkt nutzten, herbeizuführen. Genau das tat die Sekte am Morgen des 1. März 2007 mit der Hilfe von Anti-Terror-Einheiten der Polizei und der Armee. ‚Definitiv’ wurde es innerhalb einer Woche, in der das Haus hinter dem Schutz Tausender dänischer Polizisten, unterstützt von der holländischen und schwedischen Polizei, dem Erdboden gleichgemacht wurde. Dies war das Haus, das ehemals ‚Volkshaus’ genannt wurde, 1897 von und für die Kopenhagener Arbeiterbewegung gebaut. Es hatte 1910 einen sozialistischen Frauenkongress beherbergt, auf dem die deutsche Sozialistin Clara Zetkin den Vorschlag zu einem internationalen Frauentag am 8. März gemacht hatte. Am 8. März 2007 war das Haus zerstört.
Der Kulturkampf ist folglich eine sehr aggressive Kampagne zur Unterdrückung einer grossen Vielfalt alternativer und ethnischer Lebensstile, die dem allgemeinen ideologischen Projekt nicht folgen, einem Projekt, dem es im Prinzip um die Wiederherstellung des Klassensystems geht. Die Hegemonie der westlichen kapitalistischen Machtelite wird nicht nur aus einer globalen Perspektive wiederhergestellt, sondern auch auf den Strassen Kopenhagens. Dies geht Hand in Hand mit dem „Kampf gegen den Terrorismus“, der funktioniert, indem Menschen eins ums andere ihrer Grundrechte beraubt werden. Während der Unruhen in Kopenhagen führte die Polizei in bestimmten Stadtteilen einen Alarmzustand ein, der ihr gestattete, auch ohne Verdacht jeden zu durchsuchen. Die Polizei musste für solcherlei Übergriffe in die Privatsphäre keine Erklärung abgeben. Es wurde auch bekannt gegeben, dass sie Mobiltelefone abhören und private SMS lesen würde, um an Informationen zum Erhalt der öffentlichen Ordnung zu gelangen. Fast alle Treffpunkte von progressiven politischen und kulturellen Aktivitäten wurden ohne Durchsuchungsbefehl durchsucht, Türen und Equipment zerstört, und jeder, der an solchen Orten angetroffen wurde, wurde festgenommen. tv-tv, ein örtlicher Fernsehsender, den wir mit aufgebaut haben, war einer der Orte, der durchsucht und verwüstet wurde. Während der ersten zwei Wochen nach der Räumung wurden mehr als 800 Menschen fest- und mehr als 250 in Haft genommen mit aber auch ohne spezifische Verdachtsmomente zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein reichte aus, um zum Kriminellen zu werden wie es unserem Freund Niels erging, der in einer Grossaktion am 1. März festgenommen wurde. Er hatte an einer legalen Protestaktion teilgenommen und blieb, als diese krawallartige Züge annahm, als Beobachter der Konfrontation anwesend statt, wie die Aktivisten, davonzulaufen, als die Polizei anrückte. Er verbrachte zehn Tage im Gefängnis und ist immer noch wegen der Teilnahme an einer „ernsthaften Störung der öffentlichen Ordnung“ angeklagt. Der Ausnahmezustand in bestimmten Stadtteilen und die Kriminalisierung ganzer Subkulturen sind Teil des alltäglichen Lebens in Kopenhagen geworden. Diese Eskalation der Unterdrückung hat vielleicht gerade erst begonnen. Die Eskalation, so sagen sie uns, dient dem Erhalt unserer Sicherheit, aber ernsthaft: Geht es hier nicht um den Erhalt ihrer Macht?
Das Beispiel 1977
The Evening Land hatte vor dreissig Jahren Premiere in Kopenhagen. Es ist ein zwei Stunden langer Film über, wie es einer der Protagonisten am Ende des Films ausdrückt, „den Untergang der kapitalistischen Welt“. Auf dem Werbeplakat wurde The Evening Land als „ein Film über dein Leben und diejenigen, die es stehlen“ präsentiert. Ursprünglich hiess der Film Coup d’Etat und seine Hauptgeschichte dreht sich um die Gefahren eines faschistischen Staats, die unter der Oberfläche der skandinavischen Wohlfahrtsdemokratie lauern. Der Film war in Dänemark mit Laienschauspielern unter der Regie von Peter Watkins produziert worden. Kamerafrau war Joan Churchil, die mit ihrem nervösen Handkamera-Stil bereits sechs Jahre vorher mit Watkins bei Punishment Park zusammengearbeitet hatte. The Evening Land zeigt eine Reihe von dramatischen Episoden im Dokumentarstil mit Schauspielern, die laut Pressematerial „in den meisten Fällen ihre eigenen Gefühle und Meinungen äussern“.
Der Film nimmt seinen Ausgangspunkt in einem Streik, der als Protest gegen das Management einer Werft in Kopenhagen beginnt. Die Werft plant, einen Auftrag zum Bau von Schiffen, die für den Transport nuklearer Waffen für die französische Armee bestimmt sind, anzunehmen. Gleichzeitig mit dem entstehenden Konflikt, während dem sich auch andere Arbeiter am Streik beteiligen, treffen sich die Verteidigungsminister der EU in Kopenhagen. Die Minister diskutieren mit der Armee den Plan einer verstärkten militärischen Integration in Europa. Als der Streik sich in einen Generalstreik zu verwandeln droht, nimmt eine anarchistische Untergrundgruppe den dänischen Wirtschaftsminister mit der Forderung, Dänemark möge aus der NATO austreten und die Verteidigungslinie der EU verlassen, als Geisel. Das Streikkomitee distanziert sich von der Geiselnahme und die Anarchisten erklären, dass sie keinerlei Verbindung zum Streikkomitee haben. Dennoch sehen die Behörden und Medien die beiden Protestbewegungen als zusammengehörig; die Terroristen und Streikenden seien Teil ein und derselben Gefahr, die den Staat zu unterminieren drohe. Daraus resultiert eine Welle der Repression; die Polizei attackiert brutal einen legalen Protest der Streikenden, organisiert Schikanen und Razzien bei einem linken Verlag und Arbeiterorganisationen. Die Repression kulminiert schliesslich im Tod einer der unbewaffneten Anarchisten, als die Polizei deren Versteck stürmt, um den Minister zu retten.
Der Film, der sich um die sozio-politische Realität Dänemarks in den 1970er Jahren dreht, positioniert eine Gruppe von Aktivisten der damaligen Kommunistischen Partei als Kern des Streikkomitees. Die dänische Polizei und Armee verweigerten die Teilnahme an dem Film, weil, wie der Chef der Polizei seinerzeit erklärte, sie das Ziel des Films als politisch betrachteten und daher nicht bei seiner Produktion behilflich sein wollten. Auch die wichtigsten Organisationen der dänischen Filmindustrie unterstützten öffentlich die Position der Polizei gegen Watkins. Wie sich später herausstellte, entstand die Kritik dieser Organsiationen aufgrund des Drucks von Seiten der Polizei. Während des Drehs waren die Produzenten des Films gezwungen, spezielles Polizei-Equipment zu beschaffen, um die Strassenkampfszenen des Films umsetzen zu können während die ‚echte’ Polizei die ‚falsche’ Polizei daran zu hindern versuchte, zum Drehort zu gelangen. Wie es eine der dänischen Tageszeitungen damals festhielt: „Niemand kann behaupten, dass die Polizei unpolitisch sei.“
Das Pressematerial von The Evening Land stellt die Frage: „Wie wird (das Modell) Dänemark in einigen Jahren aussehen, wenn wir Kernenergie und -waffen haben, wenn die Integration durch die EU vorangeschritten ist, wenn die Militarisierung zunimmt, wenn die Inflation wächst, wenn sich die Arbeitslosigkeit verbreitet oder wäre es realistischer, statt ‚wenn’ ‚sobald’ zu sagen?“ Interessanterweise sind diese Themen heutzutage vielleicht nicht die wichtigsten sozialen und politischen Themen; Inflation und Arbeitslosigkeit existieren heute nicht (zumindest nicht in Dänemark) und auf das Wettrüsten des Kalten Krieges mit seinem Nuklearterror-Gleichgewicht folgte der globale Krieg gegen den Terrorismus (mit der EU-Armee als kleinerem Spieler). Peter Watkins wurde seinerzeit vorgeworfen, Pessimist zu sein, und es ist ziemlich ironisch, dass die meisten der Probleme, die der Film porträtiert, sich nicht in den gefürchteten Untergang des Abendlandes verwandelten. Aber hinsichtlich der Reaktionsmuster der Macht in Situationen sozialer Unruhe und Krise hat sich nicht viel verändert. Der Film zeichnet das Bild eines politischen Grundprinzips, das sich zunehmend repressiver und polizeistaatlicher Methoden bedient, um eine Krise der Wohlfahrtsdemokratie zu lösen. Eine Lösung, der wir heute auch in Dänemark und an vielen anderen Orten im Schatten der neoliberalen Normalisierung und des neoliberalen Kriegs begegnen. Der Faschismus lauert noch immer unter der Oberfläche der heutigen demokratischen freien Marktwirtschaft. Auf diese spektrale Präsens hinzuweisen war das hauptsächliche Ziel von Peter Watkins Film The Evening Land.
Henriette Heise
ist Künstlerin. Sie arbeitet mit Video, Film, TV, Fotografie, Plakaten, Linoldruck, Papiermache... Da ich dieses selbst schreibe, will ich nicht so tun, als ich wenn ich jemanden gebeten hätte das zu tun: Ich arbeite mit anderen zusammen oder alleine, aber immer als Teil von etwas ich meine, ich bin nicht allein: Ich bin inspiriert von anderen: KünstlerInnen oder einfach anderen Leute, die mich hoffen lassen. Ich mache Filmvorführungen und Ausstellungen auf der ganzen Welt, aber ich möchte euch nicht mit den Details langweilen.
Jakob Jakobsen
ist Künstler, Aktivist und Organisator. Er lebt und arbeitet an der Copenhagen Free Univerisity (copenhagenfreeuniversity.dk) und ist Teil des Infopool Networks in London (infopool.org.uk). Er war Mitgründer und erster Präsident der UKK (Junge Kunst Arbeiter) in Dänemark 2002-2003 und an der Organisation von EuroMayDay in Kopenhagen 2005-2006 beteiligt. Mitgründer von tv-tv, einem lokalen Aktivistenfernsehsender in Kopenhagen 2004. Initiator von FriKlasse, einem städtischen Schulprojekt in Kopenhagen 2005-2006.
ARE YOU PRECARIOUS?
Sylvia Schedelbauer
USA 2007, 44 Min., Farbe, Deutsch/Englisch mit engl./dt. Untertiteln
Das Video von Sylvia Schedelbauer stellt eine direkte Interaktion mit einer Diskussion dar, die wir und einige Leute aus unserem gemeinsamen Umfeld in Berlin führen. Der ‹äussere› Anlass oder Kontext zur Entstehung des Videos war das Projekt totale partizipation RADIKALE ENTSPANNUNG [totale partizipation RADIKALE ENTSPANNUNG, bei arttransponder Berlin, http://www.arttransponder.net/103.0.html], in dem wir versuchten in einem einwöchigen Treffen das Paradox der Absorption von Eigeninitiativen in neoliberalen Prozessen zu diskutieren und unsere Arbeits- und Lebensverhältnisse als ‹KulturproduzentInnen›, inklusive der eigenen Verstricktheit, zu reflektieren.
Sylvia hat im Moment ein Stipendium, weshalb sie sich für längere Zeit in San Francisco befindet. Sie beschloss, direkt etwas zu unseren Gesprächen in Berlin beizutragen und fing an, Interviews mit Leuten zu machen, die Teil ihres Umfeldes dort sind. Es handelt sich bei ihren GesprächspartnerInnen also im weitesten Sinne ebenfalls um ‹KulturproduzentInnen›. Die Interviews schickte sie dann, gebrannt auf DVD, zu uns nach Berlin. Hier dienten sie uns als eine Art ‹Fern›-Redebeitrag, ähnlich der Kommunikation mit einem Bildtelefon, und einige Aspekte, die in den Interviews zur Sprache kommen, wurden Bestandteile unserer Diskussion. Zudem wurde unsere Gruppe um weitere sechs Positionen erweitert.
In den Interviews geht es dann auch jeweils um die besonderen individuellen Lebens- und Arbeitsbedingungen der befragten Personen. Sylvia wollte die Aspekte, die ihr dort zum Thema ‹Prekarisierung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse› begegneten, in unsere Überlegungen einbringen. Ich fasse dabei die spontanen Interviews als eine Art grundlegenden Schritt auf, also das Nachdenken über ‹self-engagement› als Ansatz zu weiteren Schritten.
Steve Polta und Kathrin McInnis erzählen unverblümt über ihre alltäglichen Arbeitssituationen. Beide sagen, sie müssen mehrere Jobs miteinander verbinden, multitasking ist für beide eine selbstverständliche Strategie. Dabei scheint fast zu wenig Zeit für die eigene künstlerische Arbeit zu bleiben. Das Motto könnte heissen: «Immer weiter machen, lieber nicht darüber nachdenken.» Das kommt uns bekannt vor. Das ist es, was ich an diesen Gesprächen mag: Die Perplexität und dann der Anstoss, die Gemeinsamkeiten zu sehen.
Die Klärung des ‹self-engagement› als ersten Schritt. Oft ertappe ich mich mit meinen Freunden dabei zum Beispiel beim Email-Austausch sehr viel über einfache Strategien der Stressbewältigung und über unsere körperlichen Grenzen, und im Gegenzug über die «fast unstillbare Sehnsucht nach Entspannung» [Isabell Lorey: Vom immanenten Widerspruch zur hegemonialen Funktion. Biopolitische Gouvernementalität und Selbst-Prekarisierung von KulturproduzentInnen. In: Gerald Raunig, Ulf Wuggenig (Hg.): Kritik der Kreativität. Wien 2007, S. 130.] zu sprechen. Arbeit, die sich in alle Lebensbereiche ausbreitet. Ich bin keine Verfechterin des Konzeptes ‹Freizeit›, aber ich finde, dass zum Beispiel die Ökonomisierung von Freundschaften mehr als nur einen Gedanken wert ist.
Sylvia erwähnte auch öfter bei Telefonaten oder in Emails das Networking, eine weitere Motivation für die Entstehung der Interviews: Diese ermöglichten ihr Zugang zu einem bestehenden lokalen Netzwerk.
Kara Herold spricht im Video dann auch aus feministischer Perspektive viel über die ‹Community› als Organisationsform, die die ‹Normalfamilie› ersetzt. Urbane Nomaden bauen und pflegen ein Netzwerk, mit dem sie sich gegenseitig unterstützen und innerhalb dessen sie operieren. Diese Struktur würde ich als Ausgangssituation und Basis für selbstorganisierte Arbeit sehen.
Aber: was bedeutet das, dass ich sozusagen ‹ständig› arbeite? Selbst das Treffen mit Freunden in der Kneipe ist schnell auch immer gleich Arbeitsbesprechung. Projekte werden abgecheckt, nach Wichtigkeit, nach Weiterkommen. Geht das nicht manchmal bis an die Grenzen der körperlichen Leistungsfähigkeit? Sich-Fit-Machen. Das ist Teil des Sich-Produktiv-Haltens. Der eigene Körper muss nutzbar bleiben. Wenn ich Stress, Regeneration und Reproduktion ins perfekte Gleichgewicht gebracht habe, bin ich also in der Lage, mich selbst am besten auszubeuten. Und was ist, wenn das auch noch Spass macht? Wie zum Beispiel bei Bill Daniel, der die freiwillige Selbstmarginalisierung als Weg wählt, um sie im nächsten Schritt auch noch zu romantisieren?
Die Selbstmarginalisierung verstanden also als freiwillige Strategie und somit als Lösung, sich nicht als ‹Opfer› wahrzunehmen. Ich liebe alles, was mich stresst für mich funktioniert das nur als Offenbarungseid. So wird die eigene Lebensweise bis ins letzte verwertbar. Alles, was schwierig ist, wird verklärt… Zugegeben, gibt es einen Ausweg?
Eine weitere Frage, die ich in der gesamten Diskussion als grundlegend empfinde, kommt von Isabell Lorey: Sie definiert die Konstruktion des Selbst an sich als paradox und spricht von Subjekten, die unter der Prämisse der Selbstverwirklichung bereit sind, alles zu geben und dafür auch zu leiden. Ist der/die sich selbst als ‹alternativ› empfindende Kulturproduzierende nicht womöglich perfekt verwertbar in neoliberaler Anrufung?5
Was bedeutet das für uns? Radikale Entspannung?
Christine Woditschka
studierte Kunst an der Universität der Künste Berlin. Ihre Videos und Fotografien beschäftigen sich mit Fragen urbaner Realität und Architektur. 2007 organisierte sie zusammen mit Caroline Lund das partizipative Projekt totale partizipation RADIKALE ENTSPANNUNG bei arttransponder e.V., in dem gemeinsam mit den eingeladenen KünstlerInnen und Teilnehmenden Fragen der (Selbst-) Prekarisierung diskutiert wurden. Gezeigt wurde dort auch das Video Are You Precarious? von Sylvia Schedelbauer.
Impressum
Redaktion
Madeleine Bernstorff
Sønke Gau
Katharina Schlieben
Iris Ströbel
Übersetzungen
Stefanie Lotz (englisch-deutsch):
Emma Hebdige, Maya Pasternak, Basak Senova, Ian White, Henriette Heise/Jakob Jakobsen
Paul Bowman (deutsch-englisch):
Alex Gerbaulet, Lydia Hamann, Paul Raether/Robert Burghardt, Bärbel Schönafinger/Tobias Hering, Christine Woditschka
Shedhalle
Seestrasse 395
CH-8038 Zürich
www.shedhalle.ch
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