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konzept : treffen : künstlerInnen : filmprogramm
Was könnten alle gemeinsam tun, wenn sie sich zusammentäten?
Madeleine Bernstorff

So wie in Our Daily Bread von 1934, einem vom Regisseur King Vidor selbst finanzierten New Deal Film, die Frage nach der Regierungsform der Selbsthilfe-Kooperative schnell entschieden wird: keine «immortal democracy», auch keine «socialist form including profit controll». Sondern eben doch am liebsten der «big boss». Insofern ist da schon die Grenze produktiver Selbstorganisation erreicht. Doch der wirkliche Störfall des Films ist eine Blondine, die das Glück der Kooperative sabotiert. Der Held kriegt grad noch die Kurve, schafft es, das schon verspielte Vertrauen des Kollektivs wieder zu gewinnen und nun wird gemeinsam – über zwei Akte des Films – ein gewaltiger Bewässerungsgraben gegraben. Eine rhythmische Arbeitsapotheose voller Selbstopfer, die Männer schaufeln bis zur Erschöpfung und werfen sich dann in den Graben, um die Wassermassen in die richtige Bahn zu lenken, die Frauen leuchten nachts mit den Fackeln. Schliesslich trifft das Wasser auf dem fast vertrockneten Maisfeld ein – der Soundtrack feiert das mit einem hymnischen Gesang und der Film endet. Our Daily Bread bewegt sich in seiner hemdsärmeligen Einfachheit entlang der Kippfigur New Deal mit seinen antiwirtschaftsliberalen Notmassnahmen1 zur Bekämpfung der grossen Arbeitslosigkeits-Krise und den monumentalen Totalitarismen, wie sie in der damaligen Architektur nicht nur in Rom, Moskau und Berlin, sondern eben auch in Paris, Washington, Genf und London zu finden sind.

Von Selbstorganisation lässt sich laut Systemtheorie dann sprechen, wenn ein operativ geschlossenes System nur die eigenen Operationen zur Verfügung hat, um Strukturen aufzubauen, die es dann wieder verwenden, ändern oder auch nicht mehr benutzen und vergessen kann. Hier gibt es keine Hierarchie zwischen den ausführenden und den entscheidenden Beteiligten. Während des Fordismus und seiner hierarchischen Routinen stand die selbstbestimmte Selbstorganisation im grösstmöglichen Widerspruch zu diesen. Inzwischen aber wird sowieso alles selbst gemacht, allein wird an der Marktfähigkeit des eigenen Körpersystems gearbeitet. In der «flüchtigen Moderne» (Zygmunt Baumann) hangelt man sich von Projekt zu Projekt, was mich nicht davon abhält, den Elan von Personen, sich zusammenzutun und sich gegen ungerechte Verteilungsverhältnisse zu wehren, als Zukunftsperspektive zu sehen.

Die Schweizerin Cristina Perincioli studierte Ende der sechziger Jahre an der Filmschule in Berlin. Die zeitgemässe Politisierung brachte sie in Kontakt mit dem Mieterrat im Märkischen Viertel, einer Trabantenstadt im Norden Berlins. Der Mieterat war eine Basisgruppe aus Betroffenen, die Männer trafen Beschlüsse, während die Ehefrauen stumm strickend dabei sassen. In anderen Situationen aber fielen Perinicioli diese Frauen als besonders kämpferisch auf und sie entschied sich mit ihnen ihren Abschlussfilm zu drehen. Einen ganzen Sommer lang trafen sie sich jeden Sonntagnachmittag im Mieterladen und diskutierten das Projekt. Perinciolis dramatische Idee: eine Frau bringt aus Verzweiflung ihr Kind um, wurde von den Frauen sofort verworfen. Stattdessen entwickelten sie gemeinsam die Geschichte von der Forderung für gleichen Lohn und dem wilden Streik. «Das wichtigste aber war uns, zu zeigen, wie sich Frauen überhaupt solidarisieren könnten, denn das scheint bei vielen Frauen das grösste Hindernis zu sein. Auch die Doppelbelastung sollte thematisiert werden, ihre Probleme mit den Männern und ihr Anspruch an privates Glück sollten nicht unter den Tisch fallen.» (Cristina Perincioli) So entstand Für Frauen 1. Kapitel mit dem Lied von Ton, Steine, Scherben: Alles verändert sich, wenn du es veränderst, doch du kannst nicht gewinnen, solange du allein bist. Der grosse Reiz dieser Fiktion vom wilden Streik ist der Entstehungsprozess, der durch alle Setzungen hindurchscheint. Später wird Peter Watkins in seinem fast sechsstündigen Film La Commune (1999) über die Pariser Kommune von 1871 die Frage erforschen, wie sich Prinzipien der Selbstorganisation und Kollektivität – genauso wie die Widersprüchlichkeiten der Kommune – angemessen repräsentieren lassen.

Zu einer ähnlichen Geschichte der filmischen Selbstorganisation gehört der Dokumentarfilm Pierburg – Ihr Kampf Ist Unser Kampf, ein bewegendes Dokument eines Streiks gegen die Leichtlohngruppe II und gegen die doppelte Ausbeutung migrantischer Frauen. Das Material wurde im Sommer 1973 von verschiedenen Beschäftigten der Pierburg AG bei Neuss und FilmemacherInnen gedreht und in enger Zusammenarbeit mit den Streikenden von den FilmemacherInnen Edith Schmidt und David Wittenberg montiert, und anschliessend den AktivistInnen für ihre politische Arbeit zur Verfügung gestellt. Der aus dem heterogenen Material zusammengesetzte Film trägt keine «credits». Dieser Streik wurde in erster Linie von MigrantInnen organisiert und war erfolgreich – so wurde die Leichtlohngruppe II abgeschafft, und es wurde niemand entlassen. Die ambivalente Haltung der offiziellen Gewerkschaften gegenüber migrantischen ArbeiterInnen wurde noch dazu infrage gestellt.2

Und schliesslich der früheste Film, Ella Bergmann-Michels Erwerbslose Kochen Für Erwerbslose von 1934. Joris Ivens hatte der Regisseurin die kleine Kinamo empfohlen, eine handgerechte stumme 35mm-Kamera. Damit drehte sie im Frankfurt der 30 Jahre einen Werbefilm für das von Mart und Ella Stam gebaute jüdische Altersheim, eine Beobachtung «illegaler» Strassenhändler, den Werbefilm für die Frankfurter Erwerbslosenküchen und 1933 Aufnahmen von der letzten Wahl, Material das ungeschnitten blieb, da sie während der Dreharbeiten verhaftet worden war. Der Film über die Volksküchen wurde auf den Strassen gezeigt und im Vorprogramm von Kinos, um Geld zu sammeln für die Erwerbslosenküchen.

Caroline Goodden, Tina Girouard, Rachel Lew, Suzanne Harris und Gordon Matta-Clark gründeten im Herbst 1971 das Restaurant Food an der Ecke Prince/Wooster Street. Es war drei Jahre lang gleichzeitig Treffpunkt, Geschäftsunternehmen, konzeptuelles Kunstwerk und Teil eines sich selbst tragenden Netzwerks, zu dem auch das Magazin Avalanche, der Aktionsraum 112 sowie die Künstler- Denkfabrik Anarchitecture gehörten. Caroline Goodden: «Ich wollte der Welt mein/unser Kochen vorführen. Ich wollte einen Ort zum Essen haben, mit Essen, das ich mochte, einen Ort der dann geöffnet war, wenn ich es wollte. Und ich wollte einen Ort schaffen, wo Künstler nicht durch feste Arbeitszeiten pro Tag oder Woche festgelegt waren, falls sie plötzlich einmal Zeit brauchten, um ihre Ausstellungen zu verwirklichen, und immer noch einen Job sicher hatten, wenn sie damit fertig waren. Das ist uns in jeder Hinsicht gelungen. Während unserer Zeit garantierte Food rund 300 Künstlern ihren Unterhalt.»



1 Massnahmen waren unter anderem: gesetzliche Festlegung von Mindestlöhnen und gewerkschaftlichen Rechten, die Einführung der Sozialversicherung, Erhebung einer Erbschaftssteuer von den Reichen, Subventionierung der Farmer, öffentliche Arbeitsbeschaffungsprogramme.

2 ausführlicher Text zum Film Pierburg – Ihr Kampf Ist Unser Kampf von Martin Rapp und Marion von Osten: http://www.igbildendekunst.at/pic.bildpunkt/06/bp06fr.pdf



Eine Auswahl von Dokumentationen und Videoarbeiten aus und über selbstorganisierte(n) Arbeitszusammenhänge(n)


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