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Mapping tourism: a cartography of dreams and nightmares (2005)
Kartenserie
Philippe Rekacewicz

Kartografien: Von der Landschaft zur Botschaft
Muss man sich über die Begeisterung der Kunstmuseen für die Kartografie wundern? „Die Kartografie lebt von dieser Ambiguität, die sie an der Schnittstelle zwischen exakter Wissenschaft und Kunst ansiedelt“, schreibt Jean-Claude Groshens.1 Die Karte wird als Werkzeug zur Verortung angesehen, als visuelle Darstellung zur Beschreibung der Erde, anders ausgedrückt, als Instrument der Verständigung oder der Erklärung. Man vergisst aber, dass sich dieses Bild für sein Entstehen und seine Ausführung der Ausdrucksweise und der Mittel der bildenden Kunst bedient. Die Karte ist eine subtile Mischung aus Information, Wissen und konkreten Daten, die in Form von Linien, Farben, Masseverteilung, Kontrasten und Bewegungen in Erscheinung treten. Nicht völlig Kunst und nicht völlig Wissenschaft... Dennoch sucht sie sich einen künstlerischen Ausdruck, denn sie wird mit Farben und Formen gebildet, und gleichwohl rechtfertigt sie sich wissenschaftlich, denn sie gibt quantitativen und qualitativen Gegebenheiten sichtbar Gestalt. Für die Kartenmacher früherer Jahrhunderte war die Karte unbestreitbar ein Kunstwerk, beinahe ein Lebenswerk... Übrigens steht man staunend vor Bewunderung vor diesen Meisterwerken an Präzision und Eleganz und vergisst darüber fast ihre eigentliche Funktion, eine höchst politische nämlich: dem Monarchen eine Repräsentation des von ihm beherrschten Territoriums zur Verfügung zu stellen und so die Verteidigung und Verwaltung zu gewährleisten. Wieviele Jahre Arbeit mussten darauf verwendet werden, diese mit Trompete spielenden Engeln garnierten Karten herzustellen, Karten gespickt mit Galeonen und Karavellen, denen pausbäckige Winde in die Segel bliesen auf ihrer Fahrt über die Ozeane, auf denen sich Neptune und Sirenen aus den Fluten erhoben? Heute betrachten wir mit Rührung die ungelenken Zeichnungen von den Kontinenten, bedenkt man aber, dass es weder Flugzeuge noch Satelliten gab, waren sie nicht einmal so schlecht... Wenn auch die Proportionen nicht ganz exakt sind, so weisen doch die Formen eine verblüffende Genauigkeit auf.

Auch heute noch kann die Karte zum Träumen verführen und zur Reise einladen: Dafür braucht man nur die Zeitschrift The National Geographic aufzuschlagen. War der ursprüngliche Zweck der Karte, einen genaueren Überblick über die bekannten Territorien zu geben, bietet sie heute eine zusätzliche Dimension, nämlich verständlich zu machen, wie die menschlichen Gesellschaften den Raum, den sie bewohnen oder einnehmen, organisieren, nutzen und verwalten. Diese neue Dimension ist durch den erst in neuerer Zeit erworbenen und scheinbar unbegrenzten Zugang zu sozio-ökonomischen oder demografischen Informationen möglich geworden. Durch sie lässt sich die Kartografie als Mittel der politischen Agitation einsetzen. Indem man sich die verfügbaren Informationen zunutze macht, sie zu einer Synthese zusammenfasst und eine visuelle Repräsentation davon verfertigt, und zwar zu dem Zweck, Missstände aufzudecken (Ungleichheiten, ökonomische oder politische Machtergreifung), etwas zu bekämpfen (Ungerechtigkeit, die Minderheit, die den Reichtum für sich beansprucht) oder zu warnen (vor den zynischen Manipulationen der Geldmächte, die das Volk dazu bringen, überflüssige Güter oder Dienstleistungen im Übermaß zu konsumieren). Lange Zeit war die Karte eine deskriptive Landschaft, heute weiß man, dass sie ein Transportmittel zur Übermittlung einflussreicher Botschaften, ja sogar ein gefährliches Propagandainstrument sein kann.

Vor der Erfindung und Verfertigung einer Karte liegt immer die Konzeption, meist sind es sogar mehrere Entwürfe. Und vor den Entwürfen liegt die Intention, so sollte es zumindest sein. Ohne Intention produziert der Kartograf lediglich ein kartografisches Objekt „grau in grau“ ohne Reiz und ohne Bedeutung. Die Intention, der Grund also, aus dem man ein grafisches oder kartografisches Bild herstellen will, präfiguriert die Karte. Die kartografische Intention verwandelt sich in eine mentale Konstruktion, das Bild ist zunächst zerebral oder virtuell. Dann kommt der heikelste Augenblick, wenn sich die Idee in der ersten Skizze konkretisiert. Heikel darum, weil zwischen dem idealen Bild, das man sich im Kopf entworfen hat, und der Verfertigung dieses Bildes auf dem Papier, dem ersten Entwurf also, immer eine Differenz besteht. Diese Differenz kann minimal sein, so dass man die Idee schon mit dem ersten Federstrich in Einklang bringt. Sie kann aber auch riesengroß und hoffnungslos sein. In diesem Fall müsste man mehrmals neu ansetzen, um die richtige grafische Umsetzung für die intendierte Aussage zu finden. Anders ausgedrückt, man müsste sich auf einen „explorativen Prozess“ einlassen und eine Serie von Skizzen anfertigen, wobei die ersten die Probleme in „groben Zügen“ darlegen und sichtbar machen, ohne sich noch allzusehr mit ästhetischen Überlegungen abzugeben, die letzten dann das oder die Themen weiter verfeinern, indem sie nach den geeignetsten zeichnerischen Darstellungsmöglichkeiten (Formen, Farben, Bewegungen) suchen.

Skizze von Philippe Rekacewicz,
Le Monde diplomatique, Paris (September 2005)

Biografie
Philippe Rekacewicz, 1960 in Paris geboren, ist Geograf und Kartograf und besitzt die französische wie auch die amerikanische Staatsbürgerschaft. Nachdem er 1988 sein Studium der Geografie an der Université de Paris I (Panthéon-Sorbonne) beendet hatte, wurde er Mitarbeiter der internationalen französischen Monatszeitschrift Le Monde diplomatique (von der Tageszeitung ins Deutsche übersetzt und in der Schweiz von der Wochenzeitung veröffentlicht), für die er regelmäßig Karten anfertigt (vor allem zu den großen geopolitischen und Umweltfragen – Konflikten, Migrationen und wichtigen sozialen und wirtschaftlichen Problemen). 1996 übernimmt er einen Beraterposten bei einer Außenstelle der Vereinten Nationen in Norwegen im Rahmen ihres Umweltprogramms (PNUE/GRID-Arendal). Dort ist er verantwortlich für die Entwicklung der Kartografie und leitet verschiedene Projekte, die zum Ziel haben, Informationen zu Umweltfragen zu strukturieren und für die Öffentlichkeit verfügbar zu machen. Dabei geht es um so unterschiedliche Bereiche wie Wasserwirtschaft, Klimaveränderungen und industrielle Umweltverschmutzung. Er hat mehrere Atlanten zu den erwähnten Themen herausgegeben. Ihn interessieren die Beziehungen zwischen Kartografie und Kunst, zwischen Wissenschaft und Politik, speziell aber, welche Rolle die Kunst für die Kartenherstellung spielt und wie sie sich bei der politischen Verwendung (Manipulation) der Karte als Propagandamittel auswirkt.

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