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ON THE WAY TO: FROM/TO EUROPE [#1] [#2] [#3]
Jochen Becker für metroZones

[symposium] [photodokumentation]

Exposé für ein fortschreitendes Projekt über Europas koloniale Fundamente, trikontinentale Positionen und aktuelle postkoloniale Konditionen in den Städten von Welt
on the way to: From/To Europe möchte als fortschreitendes Recherche- und Ausstellungs-projekt zwei zentrale Erkundungsfelder - die wechselseitigen Beziehungen zwischen Europa und den Kolonialisierten seit 1884 sowie die aktuelle Situation der "Städte von Welt" als durch Migration geprägte Metropolen - miteinander verschränkt sehen. Bislang wurden Kolonialgeschichte und Migrationspolitik je getrennt betrachtet. Der Berliner "Kongo-Konferenz" von 1884/85 kommt hierbei die Bedeutung zu, einerseits die koloniale Aufteilung des afrikanischen Kontinents in ein Regelwerk überführt zu haben und zugleich - unter Ausklammerung der Betroffenen und auf Kosten Afrikas - die Einheit und den Wohlstand Europas fortentwickelt zu haben. Dem stellt on the way to: From/To Europe die Untersuchung politischer Konferenzen, Kulturfestivals, Ausstellungen und Sportveranstaltungen gegenüber, welche panafrikanische, trikontinentale oder blockfreie Positionen formulieren. Doch auch im Norden war das koloniale Projekt Europas stets umstritten. Zahlreiche Solidaritätsprojekte, antiimperialistische und internationalistische Bewegungen sind hier zu nennen.

Schon im 2. Weltkrieg, der nicht zuletzt in der "Dritten Welt" als Schlachtfeld und als Teil der Kriegswirtschaft sowie der Zwangsrekrutierung stattfand, festigten sich wechselseitige, aber dennoch ungleiche Beziehungen zwischen dem Norden und den Kolonien. Der Kolonialtheoretiker Frantz Fanon (Martinique/Algerien) sowie ein Grossteil der Staatschefs später entkolonialisierter Nationen waren selbst Teil der französischen Armee unter General Charles de Gaulle und waren an der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus beteiligt. Der 8. Mai 1945 markiert nicht nur das Ende des 2. Weltkrieges, sondern auch die vorübergehende Niederschlagung der nationalen Befreiungsbewegungen im besetzten Algerien, in dem knapp zehn Jahre später der antikoloniale Krieg gegen Frankreich beginnt.

Die heute auch im Kunstkontext rezipierten Forschungsfotografien des Soziologen und Ethnologen Pierre Bourdieu im französisch besetzten Algerien um 1960 zeigen in die Stadt getriebene Bauern, die sich mit Gelegenheitsjobs durchschlagen. Ihre Kleidungswechsel hin zu Jackett und Anzughose markieren eine Bewegung gen Europa, wohin sie schon bald als "Gastarbeiter" auswandern werden. Spätestens jetzt schlägt die Zeit des Postkolonialismus, welcher als die "koloniale Erfahrung" (Edward Said) in die metropolitanen Räume zu sickern beginnt. Diese Bewegung sollte Europa auf ihre Weise konstituieren und erweitern: "Der ausländische Arbeiter ist der europäische Bürger von morgen. Der europäische Arbeiter geht dem europäischen Bürger voran", kommentierte bereits 1974 der Deutsche Gewerkschaft-Bund in Nürnberg die migrantischen Bewegungen in den europäischen Ländern seit den 1960er Jahren.





Foto: Pierre Bourdieu,
Algerien, © Camera Austria

Wie also konstituierte sich Europa durch Kolonialismus und Migration? Wie gestalten sich die Entwicklungslinien und wechselseitigen Beziehungen bis in die Gegenwart? Und wie bildet sich ein künftiges Europa in den "Städten von Welt"? Dies sind Ausgangspunkte für das Recherche- und Ausstellungsprojekt on the way to: From/To Europe unter dem gastgebenden Dach der Shedhalle Zürich und der konzeptionellen Leitung von Jochen Becker mit Manuela Bojadzijev, Julien Enoka-Ayemba und Stephan Lanz.

Die für eine Laufzeit von drei Jahren veranschlagte Vorbereitung sieht zu diesem Zeitpunkt neben einer Ausstellung zu den Fotografien von Pierre Bourdieu in Algerien (Shedhalle Zürich) sowie einer Forschungsstation mit Dierk Schmidt im Kunstraum der Universität Lüneburg mehrere begleitende Workshops, Kongresse und Filmprogramme sowie eine abschliessende

Europas koloniale Fundamente
"Ich bin überzeugt, dass irgendwann einmal die Dritte Welt dem Westen seinen Nürnberger Prozess machen wird. Und wir werden dann alle als die korrumpierten Nutzniesser dieses Menschheitsverbrechens dastehen.”
Wolfgang Schivelbusch
  • Zwischen 1500 und 1920 standen, global betrachtet, die Mehrheit der Menschen und der Räume - zumindest nominal - unter der Kontrolle Europas.
  • Nach dem 1. Weltkrieg war die Hälfte der Erdoberfläche von Kolonien bedeckt.
  • 600 Millionen Menschen - das heisst 2/5 der Weltbevölkerung - wurden durch europäische Kolonialmächte regiert.
  • Besetzung der Länder: Übernahme der Regierung und der Macht, Kontrolle des sozialen Lebens, Verbreitung der christlichen Religion und nicht zuletzt Ausbeutung von Ressourcen wie Arbeitskraft und Bodenschätzen.
  • Auch die späte Kolonisierung brachte tiefe, mörderische Einschnitte und ist ein allgemein völlig unterbewerteter "Zivilisationsbruch”.



Cherié Samba: Aufräumen im Afrika-Museum Brüssel-Tervuren, von König Léopold II als "Kongo-Museum” gegründet

Zum Beispiel Belgien: König Léopold II

Nachdem der belgische König Léopold II den Kongo als seinen Besitz behandelte, liess er mit den aus der Kolonie entrissenen Reichtümern den Regierungssitz Brüssel massiv umbauen. Dies erinnert an die städtebaulichen Einschnitte der "Haussmanisierung" von Paris. Léopolds Europäisierung der Städte zielte somit zugleich auf Brüssel und Léopoldville, wie die Hauptstadt von Belgisch-Kongo genannt wurde. Die koloniale Überformung und Durchdringung umfasste im Laufe der sich bis weit nach Patrice Lumumbas postkolonialer Präsidentschaft erstreckenden belgischen Besetzung auf Städtebau und Architektur, auf Justiz wie Schulwesen, Medizin wie Sprache: Mit Französisch und Englisch lässt sich der afrikanische Kontinent heute noch durchqueren.



Sitzung der "Afrikanischen Konferenz" 1884/85 im Berliner Reichskanzleipalais, "nach der Natur gezeichnet von H. Lüders". Die europäischen Delegierten sitzen vor der aufgeteilten Afrika-Karte; am Kopfende steht Reichskanzler Bismarck.

Die europäische Kolonialpolitik ist angesichts ihrer Diversität eher als eine von"Politiken" zu bezeichnen: Je nach nationalstaatlicher und kultureller Ausrichtung formten sich ganz unterschiedliche Kolonialmuster heraus. Hierin müssen die Untersuchungen die landes- und kulturspezifische koloniale Politik herausarbeiten. Wenn es jedoch um die Ausbeutung der Kolonien geht, waren sich die europäischen Staaten einig. Es lässt sich sogar behaupten, dass die europäische Einheit mit den Verhandlungen der Berliner "Kongo-Konferenz" über die Kolonien einen wesentlichen Impuls erfährt. Auch um den Überseebesitz zu legalisieren, wurde 1884 dieses Treffen einberufen. Die europäische Staatengemeinschaft teilte im Zuge der sich bis 1885 hinziehenden Verhandlungen den afrikanischen Kontinent linealscharf auf. Die Menschen des afrikanischen Kontinents waren Subjekt der Verhandlungen und am Tisch abwesend. Im Nachgang der Berliner Konferenz wurde der afrikanische Kontinent auch im Landesinneren erkundet, kartiert, nationalstaatlich definiert, regiert, ausgebeutet und verwüstet. So verübten deutsche Kolonialtruppen an Nama und Herero im heutigen Namibia vor 100 Jahren Völkermord. Die Zentrale hierfür lag in der Reichshauptstadt Berlin, die sich mit ihrer nachzüglerischen Kolonialpolitik in das Machtgefüge der übrigen imperialen Staaten Europas einschrieb. Die Anticolonial Africa-Conference Berlin 2004, entstanden als Initiative afrikanischer Flüchtlinge sowie schwarzer Europäer, ging dieser verdeckten Geschichte Europas nach.

Deutsche Soldaten, vermutlich auf dem Gelände des Zollschuppens in Swakopmund, verpacken Schädel im Konzentrationslager gestorbener und ermordeter Herero für den Transport nach Berlin. Um 1905/06, aus: Anonymus: "Meine Kriegserlebnisse in Deutsch-Südwest-Afrika. Von einem Offizier der Schutztruppe", Minden, 1907


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Weltkriege & 3. Welt

Im Rückgriff auf die Kolonialaufnahmen im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika stösst man auf Bilder von erstmals so genannten Konzentrationslagern, auf Zwangsarbeit mit kalkulierter Todesfolge, auf rassistische Pornografie und Völkermord. Seit 1870 war dieser so genannte "Vernichtungskrieg" Teil der preussischen Militärdoktrin und zog sich von kolonial-imperialistischen Aktionen in Deutsch-Südwestafrika bis hin zu den Massenverbrechen der Wehrmacht im 2. Weltkrieg.

Anonym: "Besuch in Europa: Senegal, Guinea, Somalia, Tunis, Elfenbeinküste, Sudan, Anam" aus: Wilhelm Reetz (Hg) "Eine ganze Welt gegen uns. Eine Geschichte des Weltkrieges in Bildern", Berlin 1934

Trikontinentale Positionen

on the way to: From/To Europe betrachtet die Konstruktion Europa in einer historischen Perspektive von Kolonialhandel und Imperialismus mit der Berliner "Kongo-Konferenz" als konstituierendes Element auf dem Weg zu einem geeinten Europa und setzt dem Konferenzen der Befreiung (bspw. Asien-Afrika-Konferenz Bandung 1955 mit Léopold Sédar Senghor, Tschou En-lai, FLN, Gamal Abdel Nasser / All-African People’s Conference in Accra 1958 mit Frantz Fanon, Patrice Lumumba, Malcom X / Bewegung der Blockfreien Belgrad 1961 / Trikontinental- Konferenz in Havanna 1966 mit der Gründung einer Solidaritätsorganisation der Völker Afrikas, Asiens und Lateinamerikas Ospaaal) entgegen. Welt-Geschichte aus der Perspektive des Südens heisst, Selbstorganisation und Widerstand des globalen Südens im Blick zu behalten und einen anderen Denk- und Handlungsrahmen zu wählen als den auch in Deutschland vorherrschenden eurozentrischen.

Unabhängig-
keitsfeiern in Ghana (1957) und Algerien (1962)

Die african-american Show- und Sportveranstaltung "Rumble in the Jungle" anlässlich des Boxkampfes Muhammed Ali vs. George Foreman brachte 1974 Miriam Makeba und James Brown nach Zaire (Kongo). Weiterhin erkundet und präsentiert on the way to: From/To Europe massgebliche panafrikanische Kulturfestivals wie etwa die wichtigste afrikanische Filmschau Fespaco, 1970 in Ouagadougou/Burkina Faso gegründet, das Festival of Black Arts and Culture (Festac 76) in Lagos/Nigeria, die Foto-Biennale in Bamako/Mali, DAK‘ART Biennial in Dakar/Senegal oder die neugegründete Trienal de Luanda/Angola.



Edgar Cleijne (Niederlande/USA) über Festac-Gelände 1976 in Lagos

Städte von Welt

2001 war Mohamed der meistgewählte Name für Neugeborene in Brüssel. Was bedeutet das für eine Metropole, die sich als europäische Hauptstadt definieren möchte? Und was genau ist dabei eine "Europäische Stadt", wenn in Berlin-Kreuzberg die erste Schule ausschliesslich von SchülerInnen mit "Migrationshintergrund" besucht wird, oder in niederländischen Metropolen schon bald die autochthonen Holländer eine Minderheit bilden?

FAZ-Zeitungsnotiz vom 28.12.2002



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From/To Europe erkundet den migrantischen Alltag in den Städten des Globalen Nordens mit zahlreichen Bezugsnetzen zum Globalen Süden, wie sie beispielsweise Mike Davis in seinen Texten zur "Latein-Amerikanisierung" analysiert hat.

MigrantInnen in den europäischen Ländern bildeten Haushaltsstrukturen und Netzwerke heraus, die bereits über die enge Perspektive der Nationalstaaten hinauswiesen. Migrationsbewegungen trugen massgeblich dazu bei, dass sich Institutionen wie die EWG und die EU bis heute etabliert haben und die Freizügigkeit oder Beschränkung von Einwanderung zu regeln versuchen. Wie an den Beitrittsverhandlungen mit den Ländern des ehemaligen Jugoslawien oder der Türkei ebenso wie an den Nachbarschaftspolitiken mit Libyen oder der Ukraine abzulesen ist, erstreckt sich europäische Migrationspolitik bereits auf diese Länder, die u.a. als Wege für globale Migrationsbewegungen dienen. Es handelt sich um eine doppelte Bewegung: Durch ihre Praktiken erweitern sie zugleich Europa, wie sie es in seinen Grenzen in Frage stellen.

Zum Beispiel Brüssel
"Die Kultur ist die Corporate Identity des Unternehmens Europa." Jaques Delors, vormaliger Europarat-Präsident

Die Brüsseler Weltausstellung 1958 reservierte der belgischen Kolonie sowie den Kolonialwirtschaftszweigen gut die Hälfte des Geländes. In einem "Afrikanischen Dorf” mussten eingeflogene Kongolesen "Neger” spielen. Europas Hauptstadt Brüssel - mit ihrem kolonialen Fundament, dem Kongo/Afrika-Museum im Vorort Tervuren, dem Sitz von EU, NATO und im Kongo sowie Sudan erstmals zum Einsatz gekommenen europäischen Interventionstruppen sowie der allgegenwärtigen Anwesenheit von Menschen aus ehemaligen frankophonen Kolonien (das afrikanisch geprägte Quartier Matonge oder das maghrebinische Quartier Schaabeek) - ist neben der Regierungsmetropole Berlin und der Handelsstadt Hamburg ein Ausgangspunkt, um europäische, urbane, post/koloniale Geschichten zu erkunden. Das Beispiel Schweiz - Basler Mission, Handelsbeziehungen, Geldwäsche - zeigt jedoch, dass Post/Kolonialismus auch ohne Kolonien existiert. So ist Zug in der Schweiz nach New York, London und Rotterdam der viertgrösste Rohstoffhandelsplatz der Welt. Kürzlich hat das Zürcher Stadtparlament den Auftrag erhalten, die städtische "Verflechtung mit dem transatlantischen Sklavenhandel im 18. und 19. Jahrhundert von Historikern aufarbeiten [zu] lassen […] gestützt auf ein Bündel an Rechercheergebnissen, das Zürich schon damals in das europäische Netz von Handelsbeziehungen und somit in das Problem der Sklaverei involviert gewesen sei”.
(NZZ vom 15. September 2005).

on the way to: From/To Europe untersucht die Beziehungen zwischen "Europa" und "Afrika" - als historische und kulturwissenschaftliche Forschung, als eine Frage von Migration, Exklusion, Rassismus und asymmetrischen Tauschbeziehungen, als ein Versuch, ein korrigiertes Bild von Welt in den europäischen Städten widerzugeben. Und versucht nicht zuletzt, die "Kulturen Europas” jenseits eurozentrischer Perspektiven zu beschreiben.



Künstlerische Beiträge:

From/To Europe #1

on the way to: From/To Europe ist das Exposé für ein geplantes, fortschreitendes Projekt über Europas koloniale Fundamente, trikontinentale Positionen und aktuelle postkoloniale Konditionen in den "Städten von Welt". Es begleitet die Ausstellungsreihe.

on the way to: From/To Europe: Jochen Becker/metroZones mit Francesco Jodice, Valérie Jouve, Fahrettin Örenli und Dierk Schmidt; Ausstellungsarchitektur: Jesko Fezer; Projektbegleitung: Manuela Bojadzijev, Julien Enoka-Ayemba, Stephan Lanz

Francesco Jodice (Milano): The Morocco Affair (2004)
The Morocco Affair besteht aus einer Reihe von 82 Haus-Porträts in Marokko. Das Projekt wurde in den Vororten von Oujda, 30 km im Hinterland der afrikanischen Mittelmeerküste und nahe der algerischen Grenze durchgeführt. Mit Infrarottechnik wurde während der Nächte zwischen dem 17. und 23. März 2004, eine Woche nach den Angriffen in den Bahnhöfen von Madrid, gefilmt.

DVD, 22 min

Die meisten Häuser gehören MRE (Marocains Résidants à l‘Etranger), welche vor allem aus Belgien, Deutschland, Holland, Frankreich und Spanien stammen. Diese sind zumeist Ferienhäuser, die von den Eigentümern mit Hilfe der Arbeitseinkünfte in den unterschiedlichen europäischen Auswanderungsländern errichtet worden sind. (Francesco Jodice)

Valérie Jouve (Paris): Grand Littoral (2003)
Mit: Raphaelle Paupert Borne, Salah, Michèle Berson, Jo Abad, Rabah und Islam, Marie Ducaté, Abderaman Diakité, Triscia Mendy, Flavie Pinatel, Marie Mendy, Jo Thirion, Westley und Lester Mendy, Alain und Emma Huet

DVD, 20 min

Grand Littoral ist sowohl der Name eines Vorortes von Marseille als auch eines Einkaufszentrums, das dort entstanden ist. … In seinen Zugängen erzeugt das Einkaufszentrum ein Universum, das von einer widersprüchlichen Natur ist. Ich habe das Verlangen gehabt, dieses Territorium zu durchqueren. … Der Zuschauer tritt nie in das Einkaufszentrum ein: er bleibt an der Peripherie, auf der Ebene des "no man‘s lands", das es umgibt. … Es wird von den Leuten, die darum herum wohnen, als ein Ort für Spaziergänge und des Streunens belebt. … Der Hügel ist für mich "hétérotopie", während der Supermarkt nicht zu diesem Gedanken gehört. Wenn ich in den Supermarkt zurückgekehrt wäre und seine Funktion vertieft hätte, könnte ich ihn nicht als ein Element des Territoriums erschließen. … Ich erarbeite nicht die soziale Seite des Vorortes, sondern seine territoriale Qualität. … Es gibt

Fahrettin Örenli (Amsterdam): Somebody in the European Community (2001)
In der Europäischen Gemeinschaft weiß ein Individuum wissenschaftlich, dass im Moment, wo ein angezündetes Streichholz herunterfällt und den magischen Zirkel berührt, es Feuer fängt. Im Zirkel würde der Skorpion sich selbst stechen.
(Fahrett Örenli)

DVD, 4 min

Dierk Schmidt (Berlin): Conférence de Berlin 1884/85 (2005)
Auf der Berliner Afrika-Konferenz 1884/85 sprachen die dreizehn europäischen Konferenzteilnehmer sowie die USA dem belgischen König Leopold II das Kongobecken als Musterbeispiel einer vermeintlich "modernen" Kolonie zu. Kein Vertreter des betroffenen Kontinents war bei diesem Akt anwesend. Mit der Benennung zum (afrikanischen) "Freistaat", mit dem Ziel der Sklaven-Rückführung von den amerikanischen Kontinenten und im Kampf gegen arabischen Sklavenhandel, reagierten die europäischen Mächte auf eine Krise des transatlantischen Sklavenhandels und eine seit der Revolution in Haiti existierende Kritik am Kolonialismus. Auf dieser Konferenz sollte nun unter anderem Kolonialismus neu legitimiert und definiert werden.

Die eigentliche Bedeutung der Konferenz lag in einem europäischen Entschluss zur präventiven Konfliktvermeidung untereinander, die der "Acte Général", ihren Bestimmungen der Artikel 34 und 35, der "Anzeigepflicht" und der "effektiven Okkupation", unterlag. Unter ihrem Einfluss sollten die Signatarmächte in den nächsten fünfzehn Jahren den Kontinent unter sich aufteilen. Es entstanden die so genannten "Berliner Grenzen", die noch heute weitgehend die nationalstaatlichen Grenzen innerhalb des afrikanischen Kontinents bestimmen. Diese Konferenz, im Wesentlichen eine Wirtschaftskonferenz, ist nicht ferne Vergangenheit, sondern kann durchaus als ein Vorläufer der heute bekannten Wirtschaftsgipfel gelten.


(Auszug aus dem Begleittext "Die Teilung der Erde", Tableaux zu rechtlichen Synopsen der Berliner Afrika-Konferenz)



From/To Europe #2

Jochen Becker/metroZones
«Bourdieu in Algerien, Bourdieu in der Banlieue»
Ein Kommentar zu Pierre Bourdieu. In Algerien.

«Pierre Bourdieu. In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung.»
Eine Ausstellung von Camera Austria, Graz / Christine Frisinghelli und Fondation Pierre Bourdieu, Genève / Franz Schultheis

Der Soziologe Pierre Bourdieu, der gegen Ende seines Lebens über «Das Elend der Welt» aus französischer Perspektive schrieb, war als junger Kolonialsoldat in Algerien stationiert - etwa zur gleichen Zeit schrieb der in Algerien beschäftigte Psychiater Frantz Fanon den antikolonialen Klassiker «Die Verdammten dieser Erde». Dieses Land prägte Bourdieus Forschung immens. Seine von Christine Frisinghelli und Franz Schultheis jüngst wiederentdeckten Fotografien verfolgen die Vertreibungspolitik der Kolonialmacht auf der Ebene des Alltags: Dörfer und lokale Landwirtschaft wurden zerstört, die Entwurzelten in Lager konzentriert und die arbeitslos Gewordenen in die algerischen Städte getrieben. Der Sprung übers Mittelmeer in die Fabriken Frankreichs brachte die nordafrikanischen Zuwanderer in Arbeit. Viele von ihnen hausten in Hüttensiedlungen am Rande der französischen Städte.

Der Schriftsteller und Soziologe Azouz Begag, seit Mai 2005 Frankreichs "Minister für die Förderung von Chancengleichheit», erzählt im autobiografischen (Kinder)Buch «Azouz, der Junge vom Stadtrand» vom Aufbruch aus der Misere einer Bretterbudensiedlung in einem arabischen Bidonville bei Lyon. Die französischen Mitschüler wohnten in festen Häusern mit fließendem Wasser, Elektrizität und Fernsehen. Insofern waren die neu gebauten Großsiedlungen im Umkreis der Metropolen für die Zuwanderer ein Segen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben Frankreichs Banlieues drei Viertel des städtischen Wachstums aufgenommen. Heute leben hier knapp 19 Millionen Menschen. Inzwischen jedoch sprengt man sie weg oder möchte sie - samt ihrer BewohnerInnen - mit einem Hochdruckreiniger wegspülen. Die aus der Zeit des Algerienkriegs stammenden Notstandsgesetze (etat d'urgence) werden nun nicht mehr in den Kolonien, sondern in Zonen rund um die französischen Zuwanderermetropolen in Kraft gesetzt.

«Die Wahrheit ist, dass bestimmte französische Bürger wie zweitklassige, wenn nicht wie aussätzige Mitglieder der nationalen Gemeinschaft behandelt werden. Man schickt sie in Ghetto-Schulen mit unerfahrenen Lehrern, man pfercht sie in menschenunwürdige Wohnsilos, und konfrontiert sie mit einem zugeriegelten, verschlossenen Arbeitsmarkt. Kurzum: Sie leben in einem finsteren, verwüsteten Universum. Frankreich zerfällt vor unseren Augen in sozioökonomische Gemeinschaften, in eine territoriale und soziale Apartheid. ... Veränderungen in diesem Land wird es nur geben, wenn die Einwohner der Vorstädte als vollwertige Franzosen betrachtet werden, als Teil der Lösung, nicht als Ausdruck des Problems.» Tariq Ramadan (Genève/Paris)

Kommentar unter Beteiligung von: Jean Luc Godard Le Petit Soldat, Songs Stimme der Algerischen Republik, Zeynep Çelik Algiers under French Rules, Gillo Pontecorvo La battaglia di Algieri, John Cromwell Algiers, Pier Paolo Pasolini La Rabbia, Alain Resnais Muriel, Mogniss Abdallah/Ken Fero Douce France, Carte de Sejour Douce France, Jacques Tati Playtime, Loïc Wacquant Roter Gürtel, Schwarzer Gürtel, Pierre Carles La Sociologie est un sport de combat, Rabah Ameur-Zaïmeche Wesh Wesh - qu’est-ce qui se passe? The Clash Rock the Casbah, Rachid Taha Rock el Casbah, The Pop Group Savage Sea, Isaac Julien/Mark Nash Frantz Fanon: Black Skin, White Mask, Pierre Morel/Luc Besson Banlieue 13, Ariel Zeitoun/Julien Seri Yamakasi, Sido Mein Block, Bushido Feuersturm, Ulf Wuggenig/Diethelm Stoller Kunstraum Lüneburg, uam.

Kooperation:
Remember Resistance Berlin / Madeleine Bernstorff, Julien Enoka-Ayemba, Brigitta Kuster, Sonja Hohenbild

Pierre Bourdieu. In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung. (pdf)
Eine Ausstellung von Camera Austria, Graz / Christine Frisinghelli und Fondation Pierre Bourdieu, Genève / Franz Schultheis





From/To Europe #3

Roaming Around: Digital Divide, Regional Codes, Copy/South & the Question of Access
Jochen Becker/metroZones mit Agency (Kobe Matthys): quasi things • Balufu Bakupa-Kanyinda: afro@digital • Julien Enoka-Ayemba: "Nollywood" • herbstCamp Graz: Global Controll • SMAQ architecture urbanism research (Sabine Müller, Andreas Quednau): Mobile Kinshasa & display architecture

Die Schweiz ist nach Urteil des privatwirtschaftlichen Instituts World Economic Forum Genf mit ihrem "gesunden institutionellen Umfeld, einer exzellenten Infrastruktur, effizienten Märkten und einem hohen Niveau an technologischer Innovation" auf Platz eins der globalen Wettbewerbsfähigkeit angesiedelt. Als entscheidend hierfür gelten laut The Global Competitiveness Report die "wohlentwickelte" Infrastruktur für wissenschaftliche Forschung sowie der "Schutz des geistigen Eigentums". Die Länder südlich des Mittelmeeres nehmen demgegenüber die letzten Ränge ein. "Afrika wird noch lange hinterherhinken", so der Direktor des marktradikalen Global Competitiveness Networks, Augusto Lopez-Claros. An letzter Stelle auf der 125 Plätze ausweisenden Liste rangiert Angola, während etwa die Demokratische Republik Kongo nicht einmal mehr genannt wird.

Das globale Copyright-Regime kapitalisiert das sogenannte geistige Eigentum und fusst auf der 1886 geschaffenen, weltweit führenden Konvention von Bern. Stetig modifiziert, wird deren Durchsetzung unter dem Namen TRIPS+ Agreement (Trade-Related Aspects of Intellectual Property) durch die World Trade Organisation (WTO) mit Sitz in Genf beaufsichtigt.

Immer mehr Regionen lassen sich in dieses Copyright-Regime einbinden. Sie unterwerfen sich den Regularien, um als Teil der globalen Ökonomie zu gelten, obgleich hierdurch vor allem die Rechte der nördlichen ‘Wissensgesellschaften’ nun auch im Süden durchgesetzt werden sollen. Inzwischen wird deshalb in den um Open Source und Creative Commons organsierten Copyleft-Bewegungen die eigenen bislang eurozentrisch ausgerichtete Fragestellungen kritisch reflektiert. Das international erarbeitete Copy/South-Dossier (www.copysouth.org) dokumentiert dies.

Die vernetzte Welt ist zugleich in sich zersplittert - auch jenseits der ‘Digital Divide’, wie man die soziale, ökonomische, technologische und geografische Spaltung des Zugangs zum Datenverkehr nennt. Die Gräben verlaufen quer durch die Industriestaaten, vor allem aber zwischen Nord und Süd. Sogar der Regional Code für DVDs trennt Europa von Afrika. Bekannt ist der Spruch, dass es in Manhattan mehr Telefonanschlüsse gäbe als in Afrika südlich der Sahara.

Doch wer steht da am Graben und unterscheidet zwischen den digital ‘haves’ und ‘have-nots’? Rupert Scheule schreibt in der lesenswerten Auftaktdiskussion zum Buch Vernetzt gespalten, "ob nicht auch notwendig unser Digital-Divide-Diskurs Teil der bannenden Option ist, die er kritisiert?” Dem verbreiteten Afro-Pessimismus zuspielenden Bild der Ab-Gespaltenheit kann man andere entgegensetzen: So zeigt die Rate der Verbindungen des Globalen Südens ans Netz (Mobiltelefone, Internetcafes, Wireless Lan, WiMax) gerade im Vergleich zu erdgebundenen Infrastrukturen (Telefon, Wasser, Strom, Strasse, Bahn) inzwischen steil nach oben.

Bald sollen Millionen von sogenannten 100-Dollar-Laptops mit Open-Source-Software an Kinder und Jugendliche im Globalen Süden kostenlos verteilt werden. Mobil telefonieren erleichtert den Alltag in Kinshasa etwa bei der Jobsuche und ist zudem eine informelle Einnahmequelle für TelefonkartenverkäuferInnen. Auch der sogenannte Nigeria Scam, also die millionenfachen und betrügerischen eMail-Geschäftsanbahnungen, sind nur dank einer immer engmaschigeren Netzstruktur möglich. Verweisen könnte man auch auf den Bomm von ‘Nollywood’ als einen rein digitalen Video-Kinomarkt in Westafrika, der - zukunftsweisend mit DigiCams aufgenommen und auf DVDs oder VCDs sowie in Beamer-Kinos massenhaft vertrieben - inzwischen die drittgrösste Filmindustrie der Welt nach ‘Hollywood’ und ‘Bollywood’ darstellt. ‘Nollywood’ wird auf den gleichen Märkten verbreitet wie etwa die sogenannten Raubkopien von Musik, Film oder Software, bei denen das globale Copyright-Regime unterlaufen wird. Zugang zu Wissen und Kultur, welche mehr und mehr digitale Form annehmen, ist ebenfalls existenziell.




Symposium

Rock el Casbah
Bourdieu, Algier, Bern, Banlieue

Symposium 22./ 23. April 2006
Shedhalle Zürich

Konzept: Jochen Becker/metroZones mit Manuela Bojadzijev, Sönke Gau und Katharina Schlieben. Koproduziert mit Fondation Pierre Bourdieu, Geneve.

Der Soziologe Pierre Bourdieu, der gegen Ende seines Lebens über Das Elend der Welt aus französischer Perspektive schrieb, war als junger Kolonialsoldat in Algerien stationiert. Dieses Land prägte Bourdieus Forschung immens. Seine von Christine Frisinghelli und Franz Schultheis jüngst wiederentdeckten Fotografien verfolgen die Vertreibungsplitik der Kolonialmacht auf der Ebene des Alltags: Dörfer und lokale Landwirtschaft wurden zerstört, die Entwurzelten in Lager konzentriert und die arbeitslos Gewordenen in die algerischen Städte getrieben.

Über Jahre war die Schweiz Rückzugsgebiet des algerischen Widerstandes. Im Schutz der Fußballweltmeisterschaft von Bern traf sich im Sommer 1954 heimlich das sogenannte "WM Kolloquium". Neun Anführer der algerischen Revolution reisten hierzu aus Kairo, Paris und Algier an. Hier wurde der im November gleichen Jahres beginnende bewaffnete Kampf gegen die Kolonialmacht beschlossen, der 1962 mit der Befreiung Algeriens endete. Ein Verbindungsbüro in Lausanne unterstützte dabei die Kämpfe.

Arbeitslosigkeit, Kolonialkrieg sowie die späteren Bürgerkriege trieben viele AlgerierInnen übers Mittelmeer in die Fabriken und ein neues Leben in Frankreich. Viele von ihnen lebten zuerst in Hüttensiedlungen, den so genannten Bidonvilles, am Rande der französischen Städte. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben Frankreichs Banlieues drei Viertel des städtischen Wachstums aufgenommen, oftmals errichtet durch zugewanderte Bauarbeiter, die bald selbst dort einziehen werden. Inzwischen leben hier knapp 19 Millionen Menschen. Nun jedoch sprengt man die "Plattenbauten" weg oder möchte sie (samt ihrer BewohnerInnen) mit einem Hochdruckreiniger wegspülen - wie der französische Innenminister Sarkozy verlautbarte und damit einen Aufstand anheizte, der im letzten November gut drei Wochen andauern sollte. Die als staatliche Antwort eingesetzten und aus der Zeit des Algerienkriegs stammenden Notstandsgesetze (état d'urgence) werden nun nicht mehr in den Kolonien, sondern in Zonen rund um die französischen Zuwanderermetropolen in Kraft gesetzt. Der postkoloniale Zustand ist längst in Europa angekommen.



Samstag 22. April 2006
14.00 Einleitung: Jochen Becker (metroZones, Berlin) & Manuela Bojadzijev (Transit Migration, Frankfurt/M) & Katharina Schlieben/Sönke Gau (Shedhalle Zürich)

14.30 Mogniss Abdallah (Journalist, Mouvement de l’Immigration et des Banlieues, Paris) Maghrebinische Einwanderung und Widerstand bis 1990

15.15 Dietmar Loch (Soziologe, Universiät Grenoble) Von den 'roten Vorstädten' zum Protest in den Banlieues

16.00 Bernard Schmid (Journalist, Paris) Aufstand in den Banlieues, Streik in der Stadt

17.00 Manuela Bojadzijev (Transit Migration, Universität Frankfurt/M) Europäische Dimensionen der Zuwanderung

Kommentar und Diskussion

18.00 - 20.00 Essen

20.00 - 22.00 Kommentiertes Filmprogramm: Remember Resistance (Jochen Becker, Julien Enoka-Ayemba, Brigitta Kuster, Sonja Hohenbild/Berlin)

22.00 Bar



Sonntag, 23. April 2006
12.00 Exkursion in den Vorort Zürich-Schwamendingen mit Daniel Weiss und
Marion von Osten (Transit Migration, ith Zürich)

15.00 Einleitung: Jochen Becker & Manuela Bojadzijev

15.30 Charles-Herni Favrod (Autor und Fotokurator, St. Prex): Das "WM Kolloquium" von Bern und der algerische Befreiungskampf

16.15 Bernard Schmid: Algerien zwischen Befreiung und Islamismus

17.00 Franz Schultheiss (Soziologe, Foundation Pierre Bourdieu, Gèneve): Bourdieu und das postkoloniale Algerien

18.00 - 19.30 Essen

19.30 Film Mogniss Abdallah/Ken Fero ‚Douce France’

20.30 Bar